Während der richtige Umgang mit Einwanderung hierzulande ein Thema ist, das die Gemüter bewegt, gelten die Niederlande traditionell als liberal und gastfreundlich. Doch auch die niederländische Integrations- und Bildungspolitik haben sich gewandelt. Jeroen Aarssen wirft Schlaglichter auf diesen Wandel und untersucht, ob die aktuellen Maßnahmen zur frühkindlichen Bildung wirklich alle Kinder erreichen.
Mit Ausnahme einer relativ kurzen Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, als viele niederländische Familien nach Australien und Kanada emigrierten, haben die Niederlande eine lange Geschichte als Einwanderungsland. Man denke an die französischen Hugenotten im 17. Jahrhundert oder an die belgischen Flüchtlinge nach dem Fall von Antwerpen im Oktober 1914. Zahlenmäßige Höhepunkte bildeten die Ankunft »ausländischer Gastarbeiter« in den 1960er- und 1970er-Jahren und, in jüngster Vergangenheit, der syrischen Geflüchteten.
In diesem Beitrag beschreibe ich die Politik und Praxis der niederländischen Regierung zur Integration von Kindern aus migrantischen und geflüchteten Familien ins Bildungs- und Betreuungssystem; mein Schwerpunkt liegt dabei auf den ersten Lebensjahren. Die Bildung und Betreuung für Kinder zwischen null und vier Jahren (ECEC1) ist essenziell für die Integration in die Gesellschaft. Der frühe Einstieg erleichtert den Kindern und ihren Familien den Übergang in die Grundschule und schafft Chancengleichheit für alle Kinder.
Von Multikulturalismus zu Assimilation
Der Umgang mit MigrantInnen in den Niederlanden hat sich im Laufe der Jahre deutlich verschoben – von einem pluralistischen Ansatz hin zu einer Politik der Assimilation. Erstere Politik wurde lange als »multikulturell« beschrieben und verfochten. Die Einwanderung in den 1960er- und 1970er-Jahren galt als vorübergehendes Phänomen. Im Allgemeinen ging man davon aus, dass die GastarbeiterInnen nach einigen Jahren zurückkehren würden. Diese Form der Minderheitenpolitik beruhte auf der Wertschätzung von Vielfalt und Inklusion. So gab es beispielsweise die Möglichkeit für muttersprachlichen Unterricht in den Schulen.
Seit den 1990er-Jahren haben sich die Niederlande vom Multikulturalismus abgewandt und sind zur Integrationspolitik übergegangen. Der Schwerpunkt verlagerte sich auf die Integration von MigrantInnen in die niederländische Gesellschaft – wobei es immer noch Möglichkeiten gab, die eigene Sprache und Kultur zu bewahren. Seit Beginn des 21. Jahrhunderts wurde diese Argumentationslinie in der »Integrationspolitik neuen Stils« fortgesetzt, in der die Integration zur alleinigen Verantwortung der MigrantInnen erklärt wurde, statt ein gemeinsames Anliegen von Mehrheit und Minderheiten zu sein. Das ist eigentlich keine Integrationspolitik mehr, sondern eher eine Politik der Assimilation.2
Niederländisch für alle!
Dieser Wandel im Umgang mit Einwanderung spiegelt sich in der Bildungs- und Sprachpolitik wider. Die Kinder der GastarbeiterInnen wurden z.T. in ihren Muttersprachen unterrichtet. Dabei ging es nicht nur um die Verbesserung ihrer muttersprachlichen Kenntnisse, sondern auch darum, unter Verwendung der ersten Sprache die Zweitsprache Niederländisch zu erlernen. Später konzentrierte sich die Bildungspolitik stärker auf das Erlernen des Niederländischen, das zur obersten Priorität für die Integration oder gar die Assimilation in die niederländische Gesellschaft erklärt wurde. Dies führte zu einer strikt auf den Erwerb des Niederländischen ausgerichteten Politik in den Vorschulen und Grundschulen.
Bildung und Betreuung in der frühen Kindheit (ECEC) ist in den Niederlanden ein zweigliedriges System: Auf der einen Seite gibt es eine reguläre Kindertagesbetreuung für alle Kinder von null bis vier Jahren. Sie ist eine wichtige soziale Errungenschaft, weil sie zur Entwicklung der Kinder beiträgt und es den Eltern ermöglicht, arbeiten zu gehen.
Auf der anderen Seite gibt es Programme, die sich an Kinder ab 2,5 Jahren aus benachteiligten Verhältnissen richten. Solche »Risikokinder« haben Anspruch auf den Besuch einer speziellen, kommunal finanzierten Vorschule. Diese Einrichtungen der »Vooren Vroegschoolse Educatie« (VVE) fördern Kinder, die sonst Gefahr laufen würden, die Grundschule mit einer Sprachverzögerung im Niederländischen (verglichen mit ihren AltersgenossInnen) zu beginnen. Damit versucht VVE, Bildungsbenachteiligung zu verhindern.
Jeroen Aarssen promovierte über die bilinguale Sprachentwicklung türkischstämmiger Kinder in den Niederlanden. Derzeit arbeitet er als unabhängiger ECEC-Beraterund leitete viele internationale ECEC-Projekte, z.B. in der Türkei, in Litauen und Estland.
1 Der Autor verwendet hier das Kürzel für den Begriff »Early Childhood Education and Care« der OECD, der nationale Systeme der frühkindlichen Betreuung und Bildung nach bestimmten Kriterien erfasst und damit international vergleichbar macht. (Anm.d.Ü.)
2 Vgl. Poppelaars C., Scholten P. (2008): Two worlds apart: The divergence of national and local immigrant integration policies in the Netherlands. In: Administration & Society, Nr. 40(4), S. 335-357
Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe KINDER in Europa heute 03/20 lesen.