Mehrsprachigkeit ist allein ein Bildungsproblem. – Mehrsprachigkeit ist allein ein politisches Problem.
Diese einander widersprechenden Aussagen sind die Extreme, die in der Debatte um Sprachenvielfalt vertreten werden. Gastherausgeberin Marie-Nicole Rubio und Andrée Tabouret Keller eröffnen die Ausgabe 12 von »KINDER in Europa«.
Nach neuesten Schätzungen lebt mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung in »multi-lingualen« Gebieten, in denen zwei oder mehr Sprachen vertreten sind. Die häufige Mehrsprachigkeit in der Welt heute ist vor allem das Ergebnis radikaler Veränderungen. Die Menschen leben ihr Leben anders als früher.
Dazu gehören
- das Einführen der Schulpflicht und der damit verbundene Schritt hin zur allgemeinen Verwendung einer Schriftform der Nationalsprache, die sich oft sehr von der gesprochenen Sprache einer Region unterscheidet;
- das Ziehen politischer Staatsgrenzen, die keine Rücksicht auf linguistische Realitäten nehmen;
- das Einführen von Sprachen der (oft europäischen) Kolonialmächte;
- die Urbanisierung von Menschen mit verschiedener, meist ländlicher, Herkunft und schließlich
- die weit verbreitete, die Nationengrenzen überschreitende Migration.
»Mehrsprachig« (multilingual) ist ein sehr allgemeiner Begriff. Er sagt nichts darüber aus, wer welche Sprache benutzt, um sich mitzuteilen. Er verrät nicht, wie viele Menschen welche Sprache sprechen und welcher Anteil der Bevölkerung tatsächlich »plurilingual« ist (vom Europarat definiert als »die Fähigkeit, Sprachen für die Kommunikation zu nutzen und um am interkulturellen Austausch teilzunehmen, in dem die Person in unterschiedlichem Ausmaß über Fähigkeiten in verschiedenen Sprachen und Erfahrungen mit verschiedenen Kulturen verfügt«).
»Plurilingual« ist ebenfalls ein sehr umfassender Begriff. Er sagt nichts aus über die sozialen Bedingungen, die die Verwendung von mehr als einer Sprache hervorrufen: Welche Sprache wird zum Beispiel zu Hause benutzt und welche in der Schule? Oder: Warum wählt jemand die eine Sprache, um mit dem Partner finanzielle Fragen zu diskutieren, und eine andere, wenn es um die Erziehung der Kinder geht? Die beiden Begriffe sagen nichts aus über die Gesetze, die die Verwendung der Sprachen regeln, und erst recht nichts darüber, welche Sprachen die offiziellen Sprachen sind und welche Bestimmungen die Schriftform und die gesprochene Form einer Sprache regeln.
Sprache, Kultur, Identität und Macht
Ein Kind gerät heute in Europa in viele Situationen, in denen es mit zwei oder mehr Sprachen konfrontiert wird, ob das nun zu Hause ist, in der Nachbarschaft, im Kindergarten oder in der Schule. In dieser mehrsprachigen Welt will die EU die Vielsprachigkeit (den »Plurilingualismus«) fördern. Die Regierungschefs, die sich im März 2002 in Barcelona trafen, forderten, wenigstens zwei Fremdsprachen ab der frühen Kindheit zu unterrichten: »die Muttersprache plus zwei«. In einem Interview sprach Leonard Orban, Kommissar für Mehrsprachigkeit der EU, davon, wie wichtig es ist, mehrsprachig zu sein: »Mein Ziel ist es, zu beweisen, dass kulturelle und sprachliche Vielfalt keine Last sind, sondern vielmehr eine Chance, die man ergreifen muss.« Er fügte hinzu, Fremdsprachen »von der frühen Kindheit an zu lernen ist ein effektiver Weg, zur Vielsprachigkeit beizutragen«.
Dass die Sprache aus vielen Gründen wichtig ist, ist heute anerkannt: wegen der Identität, der Kultur und auch für den wirtschaftlichen Erfolg. Und doch besteht gegenüber der Vielsprachigkeit immer noch eine gewisse Ambivalenz – wenigstens bestimmten Formen der Vielsprachigkeit gegenüber. Wie Christine Perragaux in ihrem Artikel schreibt: »Zweisprachigkeit wurde lange als Grund für Verzögerungen in der Sprachentwicklung und für Lernschwierigkeiten bei Kindern aus Einwandererfamilien angesehen.« Aber nicht die Zweisprachigkeit muss man dafür verantwortlich machen; es ist vielmehr die Umwelt, die nicht bereit ist, zweisprachige Kinder aufzunehmen, monolinguale Kindergärten und Schulen zum Beispiel. Serap Sıkcan führt dazu aus: »Wenn die einsprachige Entwicklung von Kindern, die mit nur einer Sprache aufwachsen, als Maßstab genommen wird, sind mehrsprachige Kinder im Nachteil.« Ein anderes Problem ist der unterschiedliche Status der Sprachen, da die Kinder »von einem frühen Zeitpunkt an wahrnehmen, dass die Sprachen unterschiedlich anerkannt und geschätzt werden.
Status und Macht spielen daher eine Rolle in der Debatte, ebenso wie Kenntnisse und Ausbildung der Erzieherinnen und Erzieher in Kindergärten und Schulen und ihre Einstellung zu Sprachen. »Nicht an der Universität wird das am besten qualifizierte Personal gebraucht, sondern in Einrichtungen für die frühe Kindheit«, sagt Anemone Geiger-Jailett, die ebenfalls die Bedeutung der Verbindung zwischen Familie und Kindergarten oder Schule hervorhebt.
In dieser Ausgabe
Bei 23 offiziellen Sprachen, Dutzenden regionalen Sprachen und Hunderten von Sprachen der Emigranten, die alle in Europa gesprochen werden, kann diese Ausgabe von »KINDER in Europa« natürlich nicht für sich in Anspruch nehmen, umfassend zu sein. Wir stellen Hintergrundinformationen über die in Europa gesprochenen Sprachen zur Verfügung: eine Übersicht von Anémone Geiger-Jaillet über die unterschiedlichen Methoden, Sprachen zu unterrichten, und einen Artikel von Adrain Butler über den Europarat, der eine Pionierrolle dabei spielte, das Sprachenlernen zu fördern und dazu zu ermutigen. Danach zeigen wir einige Beispiele, wie Sprachenvielfalt unterstützt wird. Die Beispiele kommen aus Ländern, in denen die Vielfalt sehr unterschiedliche Ursachen hat – Wales, Schweden, Deutschland, Italien, Portugal und Rumänien – und aus zwei einzigartigen übernationalen Projekten. »Eveil aux langues« und »Education et Ouverture aux Langues à l’École« ermutigen Kinder von einem frühen Alter an, eine positive Haltung zum Sprachenlernen und zur Vielfalt einzunehmen.
Wir erfahren auch etwas aus erster Hand über die Erfahrung, mehrsprachig in multilingualen Gesellschaften zu sein, um beides besser zu verstehen – die Freude und die Probleme. Agota Kristof, die in Ungarn geboren wurde, aber eine französischsprachige Autorin geworden ist, nachdem sie aus ihrem Land floh, spricht von einem Leben, das umgeben von »feindlichen« Sprachen geführt wurde, die »meine Muttersprache töteten«.
Der zehnjährige Billy wurde in Thailand geboren, zog aber im Alter von sieben Jahren nach Schottland, wo er sich an eine andere Sprache und ein anderes Schulsystem gewöhnen musste. Sein detaillierter Bericht vermittelt uns Einsichten in die Realität eines zweisprachigen Lebens: »Wenn ich thailändisch spreche, klingt meine Stimme anders, sie klingt viel höher. Und meine englische Stimme klingt tief.«
Michel Vandenbroeck schreibt davon, ein vielsprachiges Kind, Vater und Wissenschaftler im multilingualen Belgien zu sein – eine Erfahrung, die bei ihm ein starkes Bekenntnis zu einer Bildung hervorgerufen hat, die Kinder ermutigt, von einem frühen Alter an die Vielfalt zu achten.
Zum Schluss
Strategien, um Sprachen zu fördern, sind selten für junge Kinder gedacht, obwohl es gerade diese Altersgruppe ist, die am ehesten offen für verschiedene Sprachen ist. Von einem frühen Alter an sollte man Kinder ermutigen, die sprachliche Vielfalt, die sie umgibt, als Reichtum zu erkennen. Unsere Kindergärten und Schulen müssen sich der verschiedenen Sprachen bewusst sein, die in den Familien und von den Kindern gesprochen werden, und Lehrmethoden entwickeln, die den mehrsprachigen Gesellschaften gerecht werden. Den Pädagogen muss man eine entsprechende Ausbildung anbieten, sie brauchen Material – Bücher, CDs, Videos, Spiele und anderes –, das diese Methoden unterstützt. Es ist wie bei allen Elementen, die eine Kultur ausmachen: Auch die Sprachen müssen sich weiterentwickeln, wenn sie lebendig bleiben und von vielen Menschen geteilt werden sollen.
Das Europa von morgen muss auf unserem reichen linguistischen Erbe und der Vielfalt begründet sein. Jede Sprache eröffnet uns eine besondere Perspektive, eine einzigartige Sicht auf die Welt mit ihren eigenen Gedanken und Gefühlen, die unverzichtbar ist und der keine Übersetzung je ganz und gar gerecht werden kann. Aus diesem Grunde ist jede Sprache etwas Kostbares. Die multilingualen Gesellschaften zu schätzen und die Vielsprachigkeit zu fördern – das wird den Weg zu größerem Respekt und Toleranz bahnen. Obwohl linguistische Initiativen, die für junge Kinder gedacht sind, noch in den Kinderschuhen stecken, hoffen wir, dass diese Ausgabe unseres Magazins diese Bemühungen voranbringen wird.
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