Wenn die Küche zur Werkstatt wird und Essen ein Erlebnis
Das Atelier of Tastes – Atelier des Geschmacks – ist eines der vielfältigen Ateliers, das in Reggio Emilia zu finden ist: im Loris Malaguzzi Zentrum, in den Krippen und Kindergärten sowie in der Grund- und Mittelschule. Essen als Kulturgut wird mit regionaler Zuwendung zelebriert. Die Küche ist seit dem Ursprung des Reggio-Ansatzes fixer Bestandteil seiner Bildungsphilosophie. Ein Beitrag der Bildungswissenschaftlerin Barbara Moser.
Caseificio – Malaguzzi und die Käsefabrik
In Reggio Emilia am Bahnhof angekommen, führt mich der direkte Weg in eine ehemalige Käsefabrik, in der das weltweit bekannte Loris Malaguzzi Zentrum beheimatet ist. Hier ist das Eintauchen in einen der spannendsten und inspirierendsten Bildungsansätze der Welt unaufhaltsam. Der Eintritt offenbart eine großzügige lichtdurchflutete Piazza, wo der Geruch von Kaffee, Crostinis und Croissants die Nase berührt und kein Weg am Atelier of Tastes vorbeiführt. Offenheit, Aufrichtigkeit und Empfänglichkeit der Fabrikhalle, Licht und Geruch, Farben und modernes Mobiliar fordern zum Verweilen und zum Austausch mit der Reggio-Philosophie auf. Es ist eine eigene Welt fernab von Konsum und gesellschaftlicher Schnelllebigkeit. Ein Ort konzentrierter Fokussierung auf grundlegende Bildungsthemen nah der konkreten Lebenspraxis, welche essentiellen Wert in der Reggio-Pädagogik hat.
Essen als Ausdruck kultureller Identität
Essen ist ein wesentlicher Teil unserer Lebenspraxis – ein fundamentales Bedürfnis, genussvolles Gemeinschaftserlebnis und Ausdruck kultureller Identität. Loris Malaguzzis Leitgedanke »Die ganze Bildungseinrichtung ist eine Werkstatt, wo die Kinder die Welt erforschen und untersuchen« verwandelt Räume in Lernwerkstätten. Auch die Küche wird zum Ort des sinnlichen Genusses, des künstlerischen Ausdrucks, der schöpferischen Auseinandersetzung mit Speisen und der Kontemplation. Das Kinderrestaurant spiegelt kreative Inspirationen und genussvolle Esskultur wider, dient dem Genießen leckerer Mahlzeiten und ist Raum der Begegnung und Gesprächs.
Während einer Studienreise nach Reggio Emilia besuchen die zweijährige Sarah und ihre Mutter eine Reggio-Krippe. Es ist gerade Mittagszeit und die Kindergruppen genießen die in der Küche nebenan frisch gekochten Speisen auf der Piazza. Elena, eine Reggio-Pädagogin, lädt Sarah mit großer Selbstverständlichkeit ein, sich zu ihren italienischen Altersgenoss:innen zu setzen und mitzuessen. Die deutschsprachige Sarah sitzt neben den italienischen Kindern. Gemeinsam wird gespeist und gelacht. Die Zutaten des Mittagessens stehen, mit den Begrifflichkeiten sichtbar ausgewiesen, auf einem der Tische auf der Piazza. In einer dabeiliegenden Menükarte können Familien, Gäste und Besucher:innen das Menü nachlesen. Ein Plakat informiert sie zudem, um welche Lebensmittel es sich handelt. Was neben der Piazza und dem Menütisch in der Küche geschieht, hat nichts mit Lebensmittelkonsum und Kantinenabfertigung zu tun. Was hier in der Reggio-Einrichtung »8. März« stattfindet, ist ein pures sinnliches Erlebnis.
Inspire – Create – Enjoy
Nicht das Konsumieren steht im Vordergrund, sondern die Lust und Muße am gemeinsamen Erfinden, Zubereiten und Kreieren. Den Speisen widmet man sich in der Reggio-Pädagogik nicht nur, weil der Hunger zum Essen drängt und gestillt werden will. Kinder und Erwachsene beschäftigen sich mit dem Prozess der Essensbeschaffung, der Vorbereitung und Zubereitung und erst dann, eingebettet in ein stressfreies Ambiente, mit der Nahrungsaufnahme. Ohne andere Ablenkungen werden wir mit Auge und Gaumen verwöhnt. Gemeinsam essen. Entspannt und bewusst. Nachhaltig, gesund und sinnlich zugleich. Konsumkultur versus frisch zu- bereitet und selbst gekocht. Food Waste versus Food Design. In der Kochwerkstatt stehen Kunst und Ästhetik, Slowfood und Nachhaltigkeit an oberster Stelle. Essen wird verstanden als Kulturgut und essentieller Bestandteil aller Kulturen. Die differenzierte Essenskultur bei den gegenwärtigen internationalen Einflüssen in den Bildungseinrichtungen zu erforschen, gleicht einer Ethnologie.
Barbara Moser ist Bildungswissenschaftlerin, Elementarpädagogin und Atelierleiterin. Die Aktivierung von Kreativ- und Innovativ-Potenzialen durch kreativ-künstlerische Atelierarbeit ist ihr zentrales Anliegen. Sie arbeitet und lebt in Linz und reiste als internationale Vertreterin des Reggio-Ansatzes von Kapstadt bis nach Luxemburg.
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Diesen Beitrag können Sie vollständig neben weiteren interessanten Beiträgen in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 01-02/2023 lesen.