Mit Lerngeschichten wachsen
Lerngeschichten verändern nicht nur unsere pädagogische Praxis mit den Kindern, sondern auch unseren Umgang miteinander und die Einschätzung, wodurch sich professionelle Leitung auszeichnet. Unsere neuseeländischen Kolleginnen wissen es schon lange: Am besten lernen, begleiten und leiten wir, wenn alle Beteiligten ihre Kompetenzen zum genau richtigen Zeitpunkt einbringen können. Ein Beitrag aus der Reihe »Mit Lerngeschichten wachsen« von Kornelia Schneider und Jutta Gruber.
Tanzen ist Bewegung, Tanzen belebt und macht Freude. Allein und gemeinsam. Nach Regeln oder frei. Alles ist möglich. Kinder tanzen auf jede erdenkliche Weise. Kaum hören sie Musik, fangen sie an, sich dazu zu bewegen, ganz gleich, ob sie auf eigenen Beinen stehen oder auf dem Arm getragen werden. Tanzen ist auch Lernen. Ich höre und spüre und gehe in Resonanz. Ich stimme mich ein und schwinge mit. Ich setze Töne, Melodie und Rhythmus in Bewegung um.
Spannend wird es, wenn mehrere zusammen tanzen. Sie stimmen sich dann vielleicht nicht nur auf die Musik ein, sondern auch auf die Bewegungen der anderen. Wir können in Einklang miteinander kommen, wenn ich etwas von anderen aufnehme und nachahme oder jemand anderes etwas von mir übernimmt. Wir können abwechselnd die Initiative ergreifen, um neue Ideen einzubringen, nebeneinander her tanzen oder miteinander in Tuchfühlung gehen. Wir können uns der Führung durch andere überlassen oder selbst in Führung gehen.
Ein Konzept offener Arbeit gewährt genau das, was bei frei wählbaren Möglichkeiten von Tanz geschieht: Ich nehme ein Angebot wahr, lasse mich darauf ein, lasse mich inspirieren, nehme etwas auf und tue dazu, was mir entspricht. Ich nehme an, was geschieht und bin voll dabei. Wenn es für mich stimmt, gehe ich in Resonanz mit anderen und bilde eine Lerngemeinschaft. Entsteht dabei Synchronisation, steigert sich – ähnlich wie im Tanz – das Glücksgefühl.
Strukturierte Situationen binden mich an festgelegte Regeln, die den Rahmen für mein Tun abstecken. Bleibe ich im Bild des Tanzens, sind sie vergleichbar mit Tanzformationen von Paar- oder Gruppentänzen oder mit Choreografien für Tanzaufführungen. Synchronisation ist hier von vornherein erwartet und entsteht durch Anpassung an bestehende Regeln. Es steht fest, wer führt. Wenn die Anpassungsleistung gelingt, führt auch das zu Glücksgefühl.
Eine Geschichte von Gemeinschaft, von Vorbildfunktion, vom Fallen und wieder Aufstehen
Für Josef, Adrian, Moses und Vinzenz
Ich habe heute im Garten zugesehen wie die vier Jungen gemeinsam balancierten. Mich hat es sehr berührt zu sehen, wie Josef und Adrian sich umsorgend und liebevoll um die Kleineren gekümmert haben. Sie haben Vinzenz und Moses in ihr Spiel einbezogen, ihnen gezeigt, wie man balanciert, ihnen geholfen und die Hand gereicht, wenn es mal schwierig wurde. Vinzenz und Moses waren ganz aufmerksam und wissbegierig. Und sie haben die Nähe zu den Großen sichtlich genossen. Ein besonderer Moment!
Daniela, Dezember 2015
Besonders wichtig scheint mir die Motorik:
- Bewegungserfahrungen werden gesammelt, motorische und koordinative Fähigkeiten und Fertigkeiten werden erprobt und verfeinert (Groß- und Feinmotorik, Kraft, Schnelligkeit, Koordinationsfähigkeit, Reaktion, Raumorientierung, Gleichgewicht)
- konditionelle Fähigkeiten werden ausgebildet (Ausdauer)
- eigene körperliche Grenzen werden erkannt und durch Übung erweitert
- Körpergefühl und Körperbewusstsein werden entwickelt
Genauso wichtig sind die soziale Beziehungen:
- Freude an der gemeinsamen Bewegung mit anderen!
Begleiten verlangt sich einzulassen
Wie lässt sich das auf Lernprozesse übertragen? Oder anders gefragt: Wie sieht authentische Bewegung beim Lernen aus und wie zeigt sich das in Lerngeschichten?
Unsere neuseeländischen Kolleginnen benutzen Tanz als Metapher, um Lehr-Lern-Prozesse zu beschreiben. Sie sagen: Begleitung ist wie ein Tanz. Das ist Bestandteil ihrer demokratischen Einstellung zu Lehren und Lernen. Niemand gibt vor, was gelernt werden soll. Lehrende und Lernende entwickeln gemeinsam, wie Lernprozesse vorankommen können. Ein Kompetenzvorsprung wird nicht dafür genutzt, Wissen und Können zu vermitteln, sondern für die Überlegung, wie andere bei dem, was sie sich vorgenommen haben, am besten unterstützt werden können und daraus vielleicht etwas Gemeinschaftliches entstehen könnte.
Für unsere pädagogische Praxis bedeutet das: Die Kinder bestimmen, ob sie Begleitung wollen oder nicht, und wir folgen ihren Bedürfnissen und Interessen. Begleiten setzt voraus, mich auf die Situation derjenigen, an deren Seite ich mich begebe, einzulassen. Bei solch einem Rollenverständnis gehören Lernen und Lehren zusammen. Sie sind miteinander verwoben in einem fortlaufenden Prozess der Abstimmung – wie bei einem Tanz.
Alison Brierley stellt fest (nachzulesen in Professional Development, siehe Lese- und Netztipps): »Du musst bereit sein, manchmal die Führung zu übernehmen und manchmal Schritt zu halten, du musst immer startbereit sein (on your toes)«. Es gehört zur Kultur von Responsivität (culture of responsive power), sowohl führen als auch folgen zu können. Es gibt kein Rezept dafür, wann was gefragt ist: »Manchmal musst du gar nichts sagen, denn deine Körpersprache und dein Ausdruck sind schon genug.« Und du kannst dich darauf verlassen: »Wenn du gebraucht wirst, wirst du gerufen, mit einem Blick, einer Bemerkung oder einer Frage« (Brierley 2013, S. 3). Entscheidend ist, »immer zutiefst interessiert und bereit zu sein, an der Seite von Kindern zu lernen« (ebd., S. 2 – Übersetzung jeweils von K. S.).
Zur Arbeit mit Lerngeschichten gehört eine Kultur, die darauf aufbaut, wechselseitig aufeinander einzugehen (Re-sponsivität) und in der Interaktion ein bewegliches Gleichgewicht mit viel Spielraum zwischen den Interessen von Kindern und von Erwachsenen herzustellen und zu erhalten. Die Wechsel von Führen und Folgen gelingen bei diesem gemeinsamen Tanz am besten, wenn alle Beteiligten dazu beitragen, indem sie aufeinander achten und in Dialog gehen. Mit dieser Art des »Responding« sind wir beste Vorbilder für die von uns begleiteten Kinder.
Kontakt
Kornelia Schneider war wissenschaftliche Referentin am Deutschen Jugendinstitut. Ihre Forschungsgebiete sind frühe Bildung, Forschendes Lernen, Beziehungen unter Kindern und Lerngeschichten. Sie ist seit 2005 im Austausch mit den neuseeländischen Expertinnen für die Arbeit mit Lerngeschichten und Herausgeberin von »Mit Lerngeschichten wachsen«.
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Jutta Gruber ist Journalistin, Lektorin und Heilpraktikerin für Psychotherapie. Beim Lektorat von »Mit Lerngeschichten wachsen« staunte sie über die Ähnlichkeit zu der ihr aus der Körperpsychotherapie vertrauten Haltung, die nicht wertet und ausnahmslos Allem, was sich zeigt, mit Interesse begegnet.
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Den vollständigen Beitrag und weitere Artikel zum Thema können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 03-04/19 lesen.