Die Entdeckung des Ursprünglichen Spiels
Um mit der Welt, mit sich selbst und anderen in Beziehung zu treten, brauchen Kinder – ebenso wie Jugendliche und Erwachsene – Bewegung, auch körperlich. Um ihnen nicht nur Freiraum, sondern auch Spür-Raum zu ermöglichen, plädiert der Pädagoge Steve Heitzer – in Anerkennung des Bedürfnisses nach Kontakt – für einen neuen Blick auf das sensible Thema Körperlichkeit und die Erweiterung der pädagogischen Praxis um kompetenten, professionellen Körpereinsatz.
Zwei knapp dreijährige Kinder laufen auf einer Wiese hintereinander her. Der Papa ruft seinem vorauslaufenden Sohn zu: »Schneller Thomas, die Melanie hat dich gleich!« Er unterhält sich weiter mit der Mama von Melanie und als sie kurz darauf wieder nach ihren Kindern schauen, liegen die beiden übereinander und die Eltern wissen nicht recht, was sie davon halten sollen. Der Papa sagt: »Oje, Thomas, jetzt hat sie dich gefangen. Jetzt steht’s auf und du fängst die Melanie!« Die Mutter ist besorgt: »Nicht streiten, nicht kämpfen – tut’s spielen!«
Wenn aus Bewegung Körperlichkeit wird und Kinder sich in einen Kampf verwickeln, sagen die einen »hört auf zu kämpfen – tut’s spielen« und andere »die machen das schon unter sich selber aus«. Wieder andere schauen weg, zumindest wenn sie nicht als PädagogInnen oder Eltern selbst darin verwickelt sind. Mein Bauchgefühl sagte mir immer schon, dass ich mich – im Sinne von Verantwortungsübernahme – sehr wohl einmischen muss, wenn Kinder einander weh tun. Andererseits mischen wir Erwachsenen uns oft zu schnell und zu direkt ein, obwohl es gar nicht nötig wäre. Wie entscheide ich, was dran ist? Wie verhält es sich bei Thomas und Melanie?
Bevor wir fragen, was wir wie tun können, wenn Kinder miteinander körperlich werden, müssen wir uns der Frage widmen, was wir überhaupt sehen. Wahrnehmung und Verstehen zeigt sich gerade heute, wo Achtsamkeit in aller Munde ist, als höchst aktuelles Lern- und Übungsfeld, wenn es darum geht, mit Schwierigkeiten und Herausforderungen aller Art umzugehen (Stress, Konflikte etc.) und menschlich zu wachsen. Manchmal entstehen Probleme erst durch die Art unserer Wahrnehmung und Beurteilung. Umgekehrt lassen sich viele Probleme lösen, indem wir unseren Blick genau in diesen Zwischenraum – den zwischen Auslöser bzw. Reiz und Reaktion – richten. So auch hier: Was sieht die Mutter und was tun die Kinder? Was sieht der Vater und was tun die Kinder?
Beginnen wir bei der Mutter von Melanie: Sie ist besorgt, dass die Kinder einander wehtun, dass sie kämpfen. Wenn sie genau hinsieht, kann sie kein Wehtun und keine böse Absicht erkennen. Doch sie ordnet das körperliche Miteinander von vornherein als Kampf ein. Der Vater von Thomas sieht »Fangenspiel«. Aber spielen die Kinder denn überhaupt Fangen? Nein.
Genau beobachtet würde er diese – der Broschüre »Unter Kindern« meines Hamburger Kollegen Christoph Blumberg leicht verändert entnommene – Szene so wahrnehmen: »Der Vordere (Thomas) blickt immer wieder hinter sich, um zu sehen, ob die andere (Melanie) auch hinterherkommt! Der Abstand zwischen den Spielenden wird nie so groß, dass ihre Verbundenheit abreißt. Das wäre das Ende ihres Spiels.«1
Mutter und Vater sehen die Kinder kämpfen, bzw. wettkämpfen, obwohl sie eigentlich das tun, was der Spielexperte Fred Donaldson »Ursprüngliches Spiel« (Original Play®) genannt hat. Zudem führt der Vater – selbstverständlich nicht bewusst – seinen Sohn, und damit Melanie gleich mit, in das ein, was Fred Donaldson »kulturelles Spiel« nennt. Er bringt seinem Sohn Gewinnen, sich Messen, (Wett-)Kampf bei. Vielleicht hat er sogar das Gefühl, sein Sohn kann doch schneller laufen! Er spornt ihn an und bringt beide Kinder in eine Konstellation des Gegeneinanders, obwohl ihr eigentlicher Antrieb das Miteinander ist.
- Miteinander statt gegeneinander
- MitspielerIn statt GegenspielerIn sein
- Kooperation statt Konkurrenz und besiegen wollen
- Im Kontakt bleiben, statt voreinander weglaufen
- Körper und Geist entspannt und bei voller Kraft und Leichtigkeit erhalten, statt im Kampfmodus alle Energie vergeuden
Die beiden Kinder in unserer Geschichte bleiben die ganze Zeit über verbunden, auch dann, wenn sie sich gar nicht berühren. »In der abschließenden Umarmung findet dieses Gefühl seinen Höhepunkt. Für einen kurzen Moment können die Spielgefährten ihre Verbundenheit ganz intensiv und mit allen Sinnen spüren. Schon im nächsten Augenblick lösen sie sich wieder voneinander und alles beginnt von vorne.«3
Kontakt
Steve Heitzer ist Achtsamkeitslehrer, Pädagoge und Autor des Buches »Kinder sind nichts für Feiglinge« (Freiburg 2016). Er lebt in Innsbruck, ist Vater von drei Kindern, arbeitet seit 20 Jahren mit Kindern, Eltern und PädagogInnen und ist langjähriger Schüler von Fred Donaldson.
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Den vollständigen Beitrag und weitere Artikel zum Thema können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 03-04/19 lesen.