Lerngeschichten für Erwachsene
Mit Lerngeschichten kann man sehr gut kindliche Lernschritte begleiten, beschreiben und vertiefen und sie sind besonders wirkungsvoll, wenn sie leicht, spontan und emotional geschrieben werden. Das hat sich inzwischen in der pädagogischen Praxis und in der Ausbildung herumgesprochen. Lerngeschichten können jedoch auch von Erwachsenen für Erwachsene geschrieben werden. Ein Beitrag von Sibylle Haas.
Wer Lerngeschichten für sich selbst gelesen und gefühlt hat, kann ihre Wirkung viel besser verstehen und ist eher motiviert, selbst welche zu schreiben. Die wohldurchdachte Methode für die Begleitung kindlichen Lernens wird durch den persönlich betroffenen Blick von der anderen Seite zu einem begehrenswerten Erlebnis, in das wir Erwachsene uns gut und gern auch hineinbegeben dürfen.
Wenn es stimmt, dass die Basis von Lerngeschichten aufmerksame Beachtung ist, die wohlwollend und sachkundig beschrieben wird und zu wertschätzenden Dialogen führt, dann ist das ein Schatz, der für die Entwicklung von Teamarbeit, für Personalführung und die Ausbildung junger KollegInnen nur Gutes bewirken kann. Wer hätte nicht gern einmal eine wertschätzende Beschreibung geleisteter Arbeit? Ist es nicht so, dass mit Lob und Anerkennung in der Erwachsenenwelt geradezu geizig umgegangen wird?
Als ich früher einmal Lob und Anerkennung in einer Teamsitzung auf Trägerebene anmahnte, bekam ich zu hören: »Wir sind doch nicht im Kindergarten!« Ja schade, warum eigentlich nicht? Welche Chancen entgehen uns dabei?
Ebenso wie für Kinder ist auch für die Älteren die Ermutigung zu weiterer Entwicklung und zum Ausschöpfen aller Potenziale damit verbunden. Geschichten können zu herausfordernden Aufgaben ermuntern und neue Perspektiven für uns entwickeln. In Lerngeschichten für Erwachsene spielt natürlich auch Respekt vor Individualität, Gefühl und Selbstreflexion eine wichtige Rolle. Ich empfehle sie als Mittel zur Teamentwicklung und Personalführung.
Ermutigen und bestärken
In der von mir 2016 im verlag das netz herausgegebenen Publikation »Begeisterung teilen – Lerngeschichten in die Praxis tragen« haben einige Kita-LeiterInnen und FachberaterInnen, wie z.B. Simone Wilhelm, über ihre Arbeit berichtet (S. 37): »Lerngeschichten nutze ich in drei verschiedenen Varianten. Ich schreibe sie zum Ersten aus der Fachberaterrolle heraus für Pädagogen, LeiterInnen oder Eltern. Dabei schreibe ich gern über Situationen, in denen mich die Handlungen der Erwachsenen emotional berührt haben. Über Lerngeschichten, die sich an den Stärken orientieren, kommen wir ins Gespräch, mit dem Ziel zu ermutigen und zu bestärken.« Dafür ein Beispiel:
Liebe Frau K.,
ich bin noch sehr beeindruckt von meinem Besuch in Ihrer Kindertageseinrichtung! Ich erlebe ein großes, lebendiges Haus mit einer wohldurchdachten Struktur und einer sehr vertrauensvollen und Verantwortung teilenden Leiterin.
Etwa einhundertdreißig Kinder werden hier in 5 Gruppen betreut und erhalten vielfältige Bildungsmöglichkeiten. Die pädagogischen Fachkräfte der Gruppen bilden die Kleinteams. Sie treffen interne Absprachen, haben ihre eigenen Gesprächsrunden. Und doch sind alle pädagogischen Fachkräfte ein großes einheitliches Ganzes – ein Team. Es gibt gemeinsame Ziele.
Ich habe gesehen, dass im Team und für das Team mit Hilfe der Logopädin Vorbereitungsmaterialien für die Beobachtung und Dokumentation erarbeitet wurden. Diese Materialien können von den Fachkräften für die Vorbereitung der Entwicklungsgespräche genutzt werden. Inwieweit jede Fachkraft davon Gebrauch macht, wurde mir von Ihnen gesagt, liegt in ihrer eigenen Verantwortung. Schön dachte ich, wie viel Vertrauen ist dazu notwendig! Nicht: »Das haben wir ausgearbeitet, das nutzt ihr nun alle!«, sondern: »Du als Fachkraft hast die Wahl, das ganze Fachwissen, das wir als Team erarbeitet haben, zu nutzen. Ich als Leiterin traue dir zu, Entwicklungsgespräche professionell in Eigenverantwortung zu gestalten.« Sie belassen die Verantwortung bei den Fachkräften!
Auch bei einer anderen Situation war das Thema »Vertrauen« noch einmal sehr präsent. Frau C. kam während unseres Gespräches hinzu. Sie fragte, ob die neue Vitrine mit den so individuell gestalteten Basteleien aus Kastanien bestückt werden könnte. Das wäre eine gute Anregung für die Eltern. Hier antworteten Sie, dass es dazu Absprachen im Team gab: Es sollte nicht nur das Material ausgestellt, sondern die Arbeit auch so gut dokumentiert werden, dass das Ganze für die Eltern einen Aufforderungscharakter hat. Sie baten Frau C., sich mit den anderen KollegInnen abzusprechen und dann zu entscheiden.
Sie haben die Verantwortung der Entscheidung bei den KollegInnen gelassen. Wie leicht wäre es gewesen, ihnen die Entscheidung einfach abzunehmen? Gerade bei dem Personalnotstand an diesem Tag sicher eine Verlockung. Frau C. wurde von Ihnen ermuntert, sich auf den Weg zu machen, ihren Gedanken mit den anderen zu besprechen. Liebe Frau K., in diesem Moment konnte ich ganz deutlich spüren: Sie wollen etwas bewegen. Hier soll sich jeder verantwortlich fühlen. Sie vertrauen darauf, dass in ihrem Team ein guter Geist herrscht. Ich konnte die Begriffe Verantwortung und Vertrauen hier gar nicht auseinander halten. Ich denke, das ist wohl ihre Leitungskunst, beides so sinnvoll zu verbinden. Sie schenken Vertrauen und geben damit Verantwortung ab. Jeder ist selbst für sein Handeln verantwortlich und es muss im Team, zu den Absprachen, zum Konzept der Einrichtung, zu den Leitgedanken passen. Ich habe das Konzept ihrer Einrichtung noch nicht gelesen, aber aus diesen kurzen Erlebnissen am Vormittag wurde mir hier der hohe Wert der Verantwortung für jeden selbst und für das Haus bewusst. Habe ich das richtig verstanden? Gerne würde ich mich mit Ihnen darüber austauschen, welche Erlebnisse in ihrer Entwicklung als Leiterin Sie darin so stark und klar gemacht haben.
Ihre Simone Wilhelm
Die Autorin schreibt – in »Begeisterung teilen« – weiter: »Zum Zweiten ergänze ich – nachdem ich mir die ›Erlaubnis‹ eingeholt habe – Lerngeschichten der PädagogInnen durch Antworten, Fragen und Beobachtungen. Es kommt auch vor, dass ich sie mit einer neuen Geschichte ergänze, um das Geschriebene wertzuschätzen und in den Dialog zu kommen.
Als Drittes schreibe ich Lerngeschichten über Kinder. Dadurch lenke ich den Fokus auf die Stärken des Kindes oder der Gruppe. Fachkräfte, die noch keine oder schlechte Erfahrungen mit Lerngeschichten gemacht haben, werden dadurch ermutigt und angeregt, selbst Lerngeschichten zu schreiben.«
Sibylle Haas ist Diplom-Pädagogin, Kunsttherapeutin und systemische Beraterin. Sie hat sich intensiv mit Lernwerkstätten und Lerngeschichten beschäftigt, viele Jahre den fachlichen Austausch mit Kolleginnen aus Neuseeland gesucht und damit die neuseeländische Art Lerngeschichten zu schreiben in Deutschland bekannter gemacht.
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Den vollständigen Beitrag und weitere Artikel zum Thema können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 01-02/19 lesen.