Teilhabe(n) in integrativen Kindertageseinrichtungen
Hinsichtlich der Frage, wie sich Teilhabe aus der Praxis heraus beschreiben lässt, verzichtet man in der Teilstudie der »Weiterbildungsinitiative Frühpädagogische Fachkräfte« (WiFF) bewusst auf ein Verständnis des Begriffs als eine zu erreichende Norm und zu erfüllende Aufgabe. Anna Beutin und Katja Flämig, die dafür am Alltag von 16 integrativen Kindertageseinrichtungen in zwei Bundesländern beobachtend teilnahmen und einzelne Kinder mit und ohne »Eingliederungshilfe« (SGB VIII/XII) mit einer Handkamera begleiteten, berichten von ihren Beobachtungen.
Am Rand des Flurs stehen fünf Kinder in einem Grüppchen zusammen. Die fünfjährige Lea hat ihr Kaleidoskop in der Hand und fordert die anderen etwa gleichaltrigen Kinder auf, sich zu melden. Sie greift Cans Arm, der neben ihr steht und sagt: »Finger hoch!«. Auch Josefine wird aufgefordert: »Melde dich!«. Die Kinder strecken ihre Finger in die Luft und stehen dabei aber etwas ungeordnet in der Gegend herum. Sobald Lea zu zählen beginnt, treten die Kinder näher im Halbkreis an sie heran. »… Und raus bist du«, heißt es. Josefine ist »raus« und bekommt das Kaleidoskop von Lea in die Hand gedrückt. Josefine hält es sich an die Augen und schaut hindurch, während sich die anderen Kinder eng um sie herumstellen. »Darf ich auch mal!?« fragt Can. Lea zählt nun Pia, Can und Eren ab. »Ene mene Mopel, wer frisst Popel ...« Lea zeigt mit jeder Silbe auf eines der drei Kinder, nur am Ende überspringt sie Eren und ist kurz verunsichert über ihr Vorgehen. Jetzt darf Can durch das Kaleidoskop schauen.
Eine von vielen typischen Situationendes Kita-Alltags, die um Auswahl- bzw. Aufteilungsverfahren kreisen. Mehrmals im Tagesverlauf bilden Kinder Kleingruppen. Solche Gruppenbildungsprozesse werden jedoch auch von den Fachkräften initiiert und gesteuert, wobei alle Beteiligten stets vor der Herausforderung stehen, dass viele Kinder gleichzeitig in beliebten Territorien agieren oder mit begehrten Gegenständen hantieren möchten. Die pädagogischen Fachkräfte greifen häufig regulierend ein, um Rangfolgen nach Status und Beliebtheit zu verhindern sowie gerechte Abläufe in der Güterverteilung oder der Teilnahme an Ereignissen zu garantieren. Solche Regulationen sind verschränkt mit den pragmatischen Erfordernissen der jeweiligen Kita, die wiederum aus ihrer Organisationsstruktur resultieren.
Neben den Fachkräften und den Kindern sind für Gruppenbildungen zum Teil Materialien, wie Übersichtstafeln und »Magnettafeln« bzw. Schilder, z.B. an der Turnhalle oder der Malecke, vorgesehen. Sie zeigen die Ortswechsel der Kinder an und kontrollieren deren gleichmäßige Verteilung. Die Aufteilungspraxis dient dazu, die Freispielphase, Ruhezeiten, Stuhlkreise oder – wie im folgenden Beispiel – die Mahlzeiten zu organisieren. Im verschriftlichten Ausschnitt einer Videosequenz zeigt sich, wie sich Aufteilungshandlungen vollziehen und welche unintendierten Effekte für die Praxis daraus resultieren.
Im Flur sammeln sich die Kinder vor einer langen Bank. Einige setzen sich darauf, andere stehen davor. Lucy, eine pädagogische Fachkraft, kniet noch mit Ida am Boden und spricht leise mit ihr. Dann schaut sie auf die Kinder an der Bank und ruft: »Dann setzt euch mal hin und überlegt, wer heute Tische wählt«. Es schnellen fast alle Finger in die Luft. »Ich, ich, ich, ich will. Ich will Tisch« rufen die Kinder. Lucy animiert noch mehrere Kinder: »Meldet euch, ich zähle aus.« Nach einer kurzen Pause stimmt Lucy einen Abzählreim an: »Eine kleine Micky Maus zog sich mal die Hose aus, zog sie wieder an und du bist dran« und gleitet dabei mit rhythmischen Bewegungen ihres Arms an der sitzenden Kinderreihe entlang. Der Reim endet, Lucys Finger zeigt auf Yesim, die erfreut aufsteht und nach vorn zu Lucy läuft. Andere Kinder rufen, »ich will auch«. Lucy erklärt: »Wir machen drei Tische.« Nach kurzem Überlegen »ähmmmm« schließt sie einen weiteren Abzählreim an: »Da kommt Ronny, sitzt auf einem Pony, hat ein rosa Kleidchen an und du bist dran.« Wieder stoppt ihr Finger und zeigt von weitem auf Yunis. Yunis läuft begeistert nach vorn. Erneut geht ein »Raunen« durch den Raum; einige Kinder rufen quengelnd »ich auch«. Tom fängt an, laut zu weinen und verschränkt die Arme vor der Brust. Lucy motiviert: »Melde dich weiter, ich zähle doch noch mal aus!« Tom streckt den Arm daraufhin vorsichtig aus. Lucy beginnt: »Rosi lutscht den Lutscher. Da kam ein schöner Kutscher, bringt sie nach Usbekistan und du bist dran.« Ihr Finger lutscht bei »dran« bis auf Tjara, die direkt neben Tom sitzt. (Tjara hat sich nicht gemeldet, sondern leicht am Ohr gekratzt.) Sie steht vorsichtig auf und läuft nach vorn. Eren streckt noch immer den Arm in die Luft und ruft: »Ich auch, ich auch!«.
Abzählen als partizipative Praxis?
Im Unterschied zu der eher langfristigen Einteilung der Kinder, z.B. in wöchentliche oder tägliche »Tischdienste«, wird hier sehr kurzfristig und temporär ein Arrangement für eine Tischgemeinschaft erzeugt. Zunächst fordert Lucy die Kinder auf, »Wählerin oder Wähler« für eine Tischgemeinschaft zu sein (»So dann setzt euch mal hin und überlegt mal, wer Tische wählt heute«). Dabei entsteht eine typische Situation des pädagogischen Alltags: Alle oder sehr viele Kinder fühlen sich angesprochen. Die pädagogische Fachkraft steht nun vor der Aufgabe, ad hoc entscheiden und einteilen zu müssen. Sie greift hier auf das Abzählen zurück, eine Technik, die das Ergebnis zwar prinzipiell nachvollziehbar, jedoch per Zufall ermittelt und auch unter den Kindern eine gängige und attraktive Praxis ist. Im Vordergrund steht der Abzählreim mit seinem Klang, seiner Rhythmik und Komik. Mit jeder Silbe wird nacheinander auf ein anderes Kind gezeigt, sodass das Abzählen zu jedem Zeitpunkt für alle Anwesenden öffentlich beobachtbar bleibt. Welches Kind durch das Abzählen ausgewählt wird, unterliegt nicht der subjektiven Entscheidung der Fachkraft, sondern dem vermeintlichen Zufallsprinzip. Prinzipiell stellt das Abzählen eine Technik dar, die Teilhabechancen bereitstellt, weil sie sich an alle Kinder richtet, transparent und – als originäres Element einer Kinderkultur – den Kindern bekannt ist.
Anna Beutin ist Erziehungswissenschaftlerin (M. A.) und wissenschaftliche Referentin in der Abteilung Kinder und Kinderbetreuung am Deutschen Jugendinstitut e.V., Projekt Weiterbildungsinitiative Frühpädagogische Fachkräfte (WiFF). Ihre Arbeits- und Forschungsschwerpunkte sind: qualitative Methoden der Sozialforschung, Kindheits- und Schulforschung.
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Katja Flämig, Dr. phil., ist Erziehungswissenschaftlerin und wissenschaftliche Referentin in der Abteilung Kinder und Kinderbetreuung am Deutschen Jugendinstitut e.V., Projekt Weiterbildungsinitiative Frühpädagogische Fachkräfte (WiFF). Ihre Arbeits- und Forschungsschwerpunkte sind: qualitative Sozialforschung, Frühpädagogik und Kindheitsforschung.
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Fotos: WIFF/Felix Krammer
Den vollständigen Beitrag und weitere Artikel zum Thema können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 07-08/18 lesen.