Was Kinderrechte mit seelischer Gesundheit zu tun haben
Psychische Störungen gehören heute zu den häufigsten Krankheiten im Kindes- und Jugendalter. Besonders sichtbar werden diese mit dem Eintritt in die Schule. Dabei hängt die seelische Gesundheit vor allem davon ab, ob grundlegende Lebensbedürfnisse befriedigt werden. »Kinderrechte umzusetzen und Kinder an allen sie betreffenden Angelegenheiten zu beteiligen, trägt wesentlich zum Wohlbefinden bei«, betont Oggi Enderlein im Interview mit Barbara Leitner. Sie hat vor allem die älteren Kinder, im Alter von sieben bis 13 Jahren, im Blick.
Woher kommt Ihr Impuls, sich großen Kindern zuzuwenden?
Ich wurde als drittes von sechs Kindern geboren und war durch meine Geschwis-ter in eine Kette von verschiedenen Entwicklungsstufen eingebunden. Dadurch erlebte ich beispielsweise sowohl als Dreijährige als auch als Elfjährige, wie Achtjährige ticken. Als Psychologin weiß ich heute, dass bestimmte Verhaltensweisen und Bedürfnisse etwas mit dem Lebensalter zu tun haben. Diese Erfahrung fehlt heutzutage vielen Eltern. Wenn sie nur ein Kind oder zwei Kinder in ihrer Entwicklung erleben, können sie kaum erkennen, dass bestimmte Verhaltensweisen alterstypisch sind. Dadurch fehlt oft eine Gelassenheit. Ich vermisse eine Entwicklungszuversicht dem Kind gegenüber, in dem Sinne: »Du brauchst Zeit, um dich zu entwickeln. Die steht dir zu und ich glaube daran, dass du das schaffst.« Heute betrachten viele Mütter und Väter ihre Kinder mit einer Erwartungshaltung. Sie wollten, dass ihr Kind so ist, wie sie glauben, dass es zu sein hat. Das spüren Kinder und es belastet sie häufig. Diesen Unterschied nehme ich auch interkulturell wahr.
Verhalten sich Menschen aus anderen Kulturen anders gegenüber Kindern?
Meiner Beobachtung nach möglicherweise ja. Anders kann ich mir nicht erklären, dass im Rahmen des International Survey of Children’s Well-Beeing (ISCWeB) bei einer Befragung von zehn- bis zwölfjährigen SchülerInnen zu ihrem Leben bei allen vier die Schule betreffenden Fragen Deutschland im Vergleich von 15 Ländern am schlechtesten abschnitt. Es waren die Fragen: »Gehst du gern in die Schule?«, »Glaubst du, dass dich deine LehrerInnen gerecht behandeln?«, »Hören deine LehrerInnen auf das, was du sagst und ziehen es in Betracht?« und »Fühlst du dich sicher in der Schule?«.
Wie kann es sein, dass sich Kinder in Ländern wie Afghanistan, Kolumbien, Algerien, Äthiopien oder der Türkei in der Schule wohler und von den Lehrpersonen besser behandelt fühlen?
Was ist Ihre Erklärung dafür?
Eine mögliche Erklärung könnte sein, dass die Schule bei deutschen SchülerInnen einfach keinen guten Ruf hat. Leider ergaben die Beobachtungen von Lehrerverhalten in vielen Unterrichtsstunden in Schulen aller Arten auch, dass im Durchschnitt jede vierte pädagogische Interaktion seelisch verletzte. Ich glaube, dass wir Deutsche uns im Umgang mit Kindern unbewusst an dem Bild orientieren, dass ein Kind wie ein Klumpen Ton von den Erwachsenen geformt – »gebildet« – werden müsse.
In Schweden zum Beispiel gibt es eine andere Grundeinstellung Kindern gegenüber. Dort wird ein neugeborenes Kind wie eine Pflanze in der Keimblattphase betrachtet. Die Frage ist: Wird daraus ein Apfelbaum, eine Rose oder eine Brennnessel? Die Aufgabe der Erwachsenen ist es, jeder dieser Pflanzen die bestmöglichen Bedingungen für ihre Entwicklung zur Verfügung zu stellen. Den Kindern wird mit Zutrauen und Zuversicht begegnet, ganz nach dem Motto: »Du weißt selbst, wohin du dich entwickeln wirst. Ich helfe dir dabei. Ich korrigiere dich auch.«
Was heißt das für die Begleitung von Kindern?
Kinder brauchen klare Strukturen. Sie müssen wissen, welche Regeln gelten. Natürlich werden sie versuchen, die Grenzen und Regeln auf die Probe zu stellen. Dann brauchen sie Erwachsene, die mit ihnen darüber reden und ihnen helfen, die Regeln zu verstehen oder zu ändern. Ich arbeitete viele Jahre in einem Heim für verhaltensauffällige Kinder. Dort begegnete ich sehr aufsässigen, aggressiven, aber auch depressiven, angstgeplagten Kindern. Der Grund für ihre Probleme war entweder ein zu strenges Elternhaus, in dem so gut wie nichts erlaubt war und die Kinder geschlagen und misshandelt wurden. Oder umgekehrt Eltern, die nicht in der Lage waren, Grenzen zu ziehen und dem Leben eine Struktur zu geben. Problematisch sind auch Eltern, die mal unerklärlich streng und dann wieder unbegründet nachgiebig waren, die also sehr inkonsequent, mit ihren Kindern umgingen. Kinder brauchen haltgebende, verlässliche Grenzen. Innerhalb dieser muss es aber immer genügend Freiraum für selbstbestimmtes Handeln und altersgemäße Bedürfnisse geben.
www.initiative-grosse-kinder.de
Die »Initiative für Große Kinder« will vor allem die Belange von Kindern zwischen dem Vorschul- und Jugendalter stärker in das Bewusstsein bringen. Um den Bedürfnissen der Sieben- bis 13-Jährigen besser gerecht zu werden, wirken in der Initiative beispielsweise auch SportwissenschaftlerInnen, KinderärztInnen, MitarbeiterInnen aus Schulverwaltungen und Jugendämtern, TherapeutInnen und StadtentwicklerInnen mit.
Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 11-12/16 lesen.