Ist es eine Kunst, Kinder zu erziehen? Ich finde, das ist eine spannende Frage! Gern würde ich mit »Ja« antworten, doch so einfach ist das nicht. Je mehr ich darüber nachdenke, fallen mir zuerst die gesellschaftlichen Ansprüche an die Erziehung und Bildung von Kindern in unserem Land ein.
Erziehung wird noch immer definiert als das »Einüben« von Kindern und Jugendlichen in körperliche, emotionale, charakterliche, soziale, intellektuelle und lebenspraktische Kompetenzen. Das hört sich nach anstrengendem und lustlosem Training an!
Das »Einüben« interpretiere ich so, dass Erwachsene wissen, was zu welcher Zeit Kinder lernen sollen. Dafür wurden eine Unmenge an didaktischen Arbeitsmitteln geschaffen, die methodisch von den PädagogInnenen umgesetzt werden sollen.
Zum Glück gibt es wundervolle Reformpädagogen wie Rousseau, Pestalozzi und später Freinet, Montessori, Key und Wild, die für eine Pädagogik »vom Kind her« eintreten.
Insbesondere die Reggio-Pädagogik hat das Bild vom Kind neu definiert und in den Mittelpunkt gestellt. Das Kind wird als aktives und kreatives Subjekt seiner eigenen Entwicklung und in seiner lebendigen Beziehung zur Umwelt angesehen. Das Kind bringt von Geburt an alle Fähigkeiten mit, sich selbstständig weiterzuentwickeln. Ich meine, Erziehen ist Kunst, wenn die PädagogInnen eine Kultur der Erziehung praktizieren, in der selbstgesteuerte Lernprozesse der Kinder möglich sind.
Für diese Kunst sollten folgende Voraussetzungen geschaffen werden:
- Der Raum wird »dritter Pädagoge«.
- Die PädagogInnen benötigen solide handwerkliche Fähigkeiten und
- sie leben die »berufliche Kunst« mit Herz, Hand und Verstand.
Kinder brauchen für ihre individuellen und vielfältigen Entwicklungsmöglichkeiten anregungsreiche Räume und PädagogInnen mit »kunstvollen« Kompetenzen.
Was sind anregungsreiche Räume?
Der Raum wird zum »dritten Pädagogen«, wenn die PädagogInnen folgende Fragen für sich und das Team geklärt haben:
- Wie wird ein Ordnungssystem entwickelt, das für die Kinder verständlich ist?
- Sind die Materialien so gewählt und gestaltet, dass jedes Kind sein eigenes Erfolgserlebnis haben kann?
- Wie viele Kinder können gleichzeitig im Raum verschiedene Dinge tun?
- Bietet der Raum eine Vielfalt an Materialien?
- Gibt es klare Absprachen, die für alle Räume gelten?
- Können die PädagogInnen eine entspannte, freie und in diesem Sinne geordnete Atmosphäre schaffen, damit die Kinder sich gut entfalten können?
Ästhetische Werkstätten und Materialien laden zum genussvollen Tun ein. Ein gut gefülltes Regal nenne ich deshalb eine »visuelle Cafeteria«. Sie soll »hungrig« machen, fantasievoll und kreativ aktiv zu werden.
Welche »kunstvollen« Kompetenzen der PädagogInnen sind nötig?
»Das Kind muss die von uns Erwachsenen wieder zu entdeckende Fähigkeit zum Staunen spüren; es muss unsere Verblüffung erleben können. Es geht also darum, dass wir die Fähigkeit, sich wundern zu können, wiedererlangen und wir die damit verbundenen Gefühle genießen können.«
Loris Malaguzzi
Die PädagogInnen übernehmen eine völlig neue, möglicherweise für sie ungewohnte Rolle. Sensibel beobachtend nehmen sie das Kind in seiner frei gewählten Tätigkeit wahr. Sie folgen den Spuren der Kinder und zeigen ein wirkliches Interesse für deren Eigenleben.
Sie entwickeln eine Kultur des Zuhörens und sie beobachten die Kinder in ihrem Tun.
Die PädagogInnen sind authentisch und integer in ihrem Handeln. Für die Kinder sind sie verlässliche Vertrauenspersonen und Interaktions- und Dialogpartner. Die PädagogInnen werden zu kreativen MentorInnen, EntwicklungsbegleiterInnen, LernpartnerInnen der Kinder. Sie unterstützen deren Autonomie.
Erzieht Kunst?
Kinder sind neugierig, begeisterungsfähig und offen für alles was sie in ihrer Welt finden. Sie sollten täglich die Möglichkeit haben, sich schöpferisch auszudrücken.
Wir wissen, dass entdeckendes Lernen die Ausgangsbasis für künstlerische Ausdrucksformen von Kindern ist. Hierzu zählen alle schöpferischen Tätigkeiten wie z.B. die Malerei, die Musik, das Theaterspielen oder Erzählen.
In Kindertageseinrichtungen sollte deshalb die künstlerische Praxis unverzichtbar für alle Bildungsprozesse der Kinder sein.
Kontakt
Marion Tielemann
Institut für pädagogische Kompetenz
www.mtielemann.com
Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 08-09/16 lesen.