Das Leben mit Pflegekindern
»Wie ich die Familie Winter kennen lernte? Ich saß in der Küche«, erinnert sich Johanna Meyen, »und auf einmal kamen ein junger Mann und eine junge Frau durch den Garten auf mich zu. Dann kam ein Kind, noch ein Kind, noch eins... Ich glaube, es schoss mir kurz durch den Kopf: Womöglich eine Familie christlicher Fundamentalisten. Es waren aber die neuen Nachbarn. Wir machten uns bekannt und trafen uns bald darauf, um das Türchen zu begießen, das unsere Grundstücke miteinander verbindet: Auf gute Nachbarschaft!« Familie Winter aus Niedersachsen hatte das alte Schulhaus eines winzigen Dorfes im brandenburgischen Oderbruch gekauft. Und von den vielen Kindern entstammten nur zwei der eigenen Produktion.
An einem Abend in den Frühlingsferien sitzen wir in Winters Garten am Lagerfeuer. Als ich wissen möchte, wieso es die Niedersachsen ausgerechnet ins Oderbruch verschlug, erzählt Anne Winter: »Zehn Jahre lang waren wir in den Ferien in dieser Gegend. In einem verregneten Sommer fuhren wir über die Dörfer, um uns Häuser anzuschauen, die zum Verkauf standen. Ich hatte schon keine Lust mehr, die Kinder quengelten, aber mein Mann sagte, dass nur noch eins auf der Liste steht. Dieses Haus fand ich hässlich, und das Dorf war auch nicht attraktiv.«
Winters kauften die Schule trotzdem, denn: Die Bausubstanz war gut erhalten. »Ich wollte nämlich keine Ruine erwerben, neben der wir jahrelang im Zelt kampieren und ohne Ende ackern müssen«, erklärt Jan Winter. Die alte Schule war leer, bis auf Spültisch und Herd. Winters mussten die Räume nur renovieren und einrichten. Schon lange hatten sie von einem Haus auf dem Land geträumt, nur von Feldern umgeben und ohne Nachbarn, die sich gestört fühlen könnten, wenn die Kinder draußen toben und sich verlustieren. Dass es Nachbarn gibt, stellte sich jedoch bald als Vorteil heraus: Schnell fanden die Kinder Kontakt zu ihnen, und die Nachbarn achten auf Haus und Garten, wenn Winters nicht da sind.
Der richtige Weg...
Winters haben zwei eigene Kinder, Thea und Paul. Thea war 16 Jahre und Paul war sechs Jahre alt, als die Familie das Feriendomizil im Oderbruch bezog. Mit ihnen kamen Larissa (2), Elena (18), Jason (15) und Michelle (14), die Pflegekinder. Der große Garten, der kaum befahrene Sandweg durchs Dorf, die weiten Felder und die Nähe des Waldes – ein Paradies für die Kinder.
Doch wie kam es dazu, dass Winters mit sechs Kindern in dem Dörflein auftauchten? Hätten zwei nicht genügt? Da muss Anne Winter ein wenig ausholen: »Ich arbeite für ein evangelisches Kinderheim und leite eine Familiengruppe. Als mein Mann und ich vor 20 Jahren mit der Arbeit begannen, nahmen wir vier Kinder aus dem Kinderheim in unsere Familie auf. Vor zehn Jahren, als wir ins Dorf kamen, bestand unsere Familiengruppe immer noch aus sechs Kindern, zwei eigene plus vier aus dem Heim. Ab und zu bekamen wir Anfragen, ob wir zusätzlich Bereitschaftspflegekinder aufnehmen. Eins blieb ein halbes Jahr, ein anderes eine Woche, eines mal nur 25 Stunden. Damals kam auch Larissa zu uns. Sie war ein Baby und sollte längstens zwei Monate bleiben. Heute ist sie elf Jahre alt.« Larissa kuschelt sich an Anne und sagt: »Ihr konntet mich nicht mehr hergeben, stimmt’s?«
»Ja«, sagt Anne. »Wenn die Kinder zu uns kommen, haben sie die Option, bei uns aufwachsen zu können, bis sie selbstständig sind. Zwar klappte das nicht bei allen Kindern, aber vier Pflegekinder haben wir betreut, bis sie erwachsen waren. Jason hat mittlerweile schon ein eigenes Kind.«
Um Kinder im Rahmen der stationären Jugendhilfe in die Familie aufzunehmen, braucht zumindest ein Ehepartner eine pädagogische Ausbildung. Die 53jährige Anne ist Diplompädagogin. Im Kinderheim in Niedersachsen ist sie als Sozialpädagogin angestellt. Doch was das Zusammenleben mit fremden Kindern betrifft – da war Jan (47) die treibende Kraft. »Ich habe eine Ausbildung als Jugend- und Heimerzieher«, sagt er. »Seit fünf Jahren bin ich Jugendleiter in meiner Kirchengemeinde. Anne lernte ich während einer Behindertenfreizeit in Belgien kennen. Danach haben wir ziemlich schnell geheiratet und Thea bekommen. Aber unsere Dienstzeiten in verschiedenen Wohnheimen der Jugendhilfe erschwerten das Familienleben. Ich fand, man müsste Leben und Arbeit besser miteinander verbinden können. So kamen wir auf die Idee mit der Familienwohngruppe und stellten fest: Der Bedarf ist groß.«
Annes Kinderheim suchte ständig nach Ehepaaren, die bereit sind, Kinder bei sich aufzunehmen. Diese Paare werden einer gründlichen Prüfung unterzogen. Es gibt Gespräche und Hausbesuche. »Die Heimleitung, die Sozialpädagogin und die Psychologin wollten sich einen Eindruck davon verschaffen, wie wir leben«, sagt Anne. »Wir waren jung und hatten wenig Geld. Unser Küchenschrank stammte aus dem Sperrmüll, ein altes Sofa hatte Jan selbst bezogen. Das wirkte auf die Leute, als hätten wir unseren eigenen Lebensstil noch nicht gefunden. Dabei waren wir zu diesem Zeitpunkt schon fest davon überzeugt, dass es für uns der richtige Weg ist, unsere Familie für Kinder zu öffnen, die nicht in ihren Herkunftsfamilien leben können.«
Drei Jahre später, 1993, waren sich die Verantwortlichen dann einig: »Ja, wir können uns vorstellen, dass Winters eine Familiengruppe gründen.« Man stellte ihnen ein Haus zur Verfügung. Tochter Thea war damals fünf Jahre alt.
Nach und nach kamen vier Kinder in die Familiengruppe. Das jüngste war drei, eins war fünf, eins sechs und das älteste – geistig behindert – sieben Jahre alt. Das war 1993.
Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 08-09/14 lesen.