oder ... Völkerverständigung und Familienhilfe
»Junge Journalisten on Tour« – im Rahmen eines Projekts der Kreisau-Stiftung, gesponsert durch das »Große Waisenhaus zu Potsdam«, gingen deutsche und polnische Jugendliche zwischen 16 und 20 Jahren gemeinsam auf Recherche-Tour und lernten einen Kindergarten im niederschlesischen Morawa kennen. – Die Gymnasiastin Elisabeth Döring berichtet.
Es ist 8.00 Uhr morgens. Alec1, ein kleiner Junge in grünkariertem Hemd, spielt auf einem bunten Teppich mit Autos. Das rote mag er besonders; er lässt es nicht aus den Augen.
Noch ist er allein, aber in einer halben Stunde werden hier dreißig Kinder spielen. Fast alle leben in sozial schwachen Familien.
Alec hat Glück. Seine Mutter und die Großmutter sind in der Küche des Hauses mit dem bunten Teppich und den schönen Autos beschäftigt. Deshalb zählt seine Familie nicht zu den 28 Prozent der Bevölkerung, die in Morawa, einem kleinen Dorf im Herzen Niederschlesiens, keine Arbeit finden. Das Haus, in dem die Frauen arbeiten, heißt Schloss Muhrau und war bis zum Ende des zweiten Weltkrieges im Besitz der Familie von Wietersheim-Kramsta.
Melitta von Wietersheim-Kramsta war 17 Jahre alt, als sie mit ihren Eltern und den sechs Geschwistern aus dem Schloss vertrieben wurde. Die Deutschen hatten den Krieg verloren. Nun sollten sie sich in Schlesien und vielen weiteren Gebieten östlich der Oder-Neiße-Grenze nicht mehr blicken lassen. Während das Schloss mehrfach den Besitzer wechselte und verwahrloste, lebte Melitta von Wietersheim-Kramsta in Angola. Dort heiratete sie und trägt heute den Namen ihres Mannes: Sallai.
Dem Wunsch der Mutter, zurück nach Morawa zu gehen, standen Melitta und ihre Geschwister anfangs skeptisch gegenüber. Doch Ende der achtziger Jahre fasste die Familie den Entschluss, auf dem alten Gut etwas Neues aufzubauen. Man war sich einig, dass im Schloss eine Einrichtung entstehen sollte, die die deutsch-polnische Völkerverständigung fördern und sozial schwache Menschen unterstützen sollte.
Mit ihren Geschwistern gründete Melitta Sallei 1991 den karitativen Kindergartenverein Hedwig e.V., der Kindern, deren Eltern keine Arbeit haben oder alkoholabhängig sind, deren Mütter allein stehen oder sich prostituieren, ermöglichen soll, den Kindergarten im Schloss Muhrau zu besuchen.
Im Oktober 1992, nach ihrer Pensionierung, kehrte Melitta Sallei auf das Gut ihrer Eltern zurück, ließ es renovieren, und im Mai des folgenden Jahres wurde der Kindergarten eröffnet.
Um Michal (21) scharen sich bereits die Jungen. Der schlanke junge Mann hilft ein Mal in der Woche im Kindergarten. Normalerweise ist er – wie fünf weitere Freiwillige aus Polen, Deutschland und Tschechien – in einem anderen Teil des Schlosses mit Renovierungs- und Restaurierungsarbeiten beschäftigt.
Eine Kindergärtnerin spielt Gitarre, singt mit den Kindern, spielt mit ihnen – wie jeden Morgen. Zwei Jungen helfen, die Tische zu decken. Nach dem Frühstück steht es den Kindern frei, ob sie am Unterricht teilnehmen wollen. In dieser Woche beschäftigen sie sich mit dem Thema »Frühling«.
Etwa 15 Kinder sitzen an ihren Tischchen, reißen aus Zeitungspapier Weidenkätzchen aus, kleben und malen. Jedes Kind hängt sein Bild selbst an eine Wäscheleine, die quer durch den Raum gespannt ist.
Während die Lehrerin sich mit einer Gruppe von Kindern beschäftigt, kümmert sich Michal vorrangig um Alec, der mit seinem roten Auto allein in einer Ecke sitzt. Er möchte nicht mit den anderen Kindern spielen, denn er ist traurig, weil er keinen Joghurt abbekommen hat. Als Michael ihn trösten will, wirft er das rote Auto durch das Zimmer. Michal gibt sich geschlagen, verschwindet, taucht aber ein paar Minuten später mit einem Erdbeerjoghurt wieder auf. Der Tag ist gerettet. Alec strahlt und präsentiert begeistert die Fruchtstückchen in seinem offenen Mund.
Die anderen Kinder spielen oder arbeiten mit Montessori-Materialien. Allerdings ist der Kindergarten im Schloss Muhrau kein lupenreiner Montessori-Kindergarten. Die Materialien sind zu teuer, und Arletta Drozdowicz, die Leiterin, bringt es auch nicht übers Herz, gespendetes Spielzeug abzulehnen. »Wir nehmen alles, was zu uns passt«, erklärt sie, und wenn sie den Kindern beim Spielen zusieht, ist sie sicher, dass sie die richtige Entscheidung getroffen hat.
Nach und nach lernen die Kinder, sich in eine Gruppe zu integrieren. Zu Hause können sie solche Erfahrungen selten machen. Sie spüren die Konflikte, in denen sich ihre Eltern befinden, und das wirkt sich auf ihr Verhalten aus. Manche Kinder sind schüchtern, und es ist schwer, mit ihnen in Kontakt zu kommen. Andere sind, wie Alec, hyperaktiv, leiden unter emotionalen Störungen oder zeigen psychosomatische Symptome. Beunruhigend ist, dass diese Symptome im Laufe der Jahre zunehmen. Bewegungsmängel und falsche Ernährungs- oder Hygienegewohnheiten belasten die Kinder zusätzlich.
Im Kindergarten versuchen die Betreuerinnen, die Gesundheit der Kinder während des Unterrichts, beim Spielen und beim Sport zu fördern und sie auf das Leben nach der Zeit im Kindergarten vorzubereiten. Mit Erfolg: Lehrer beschreiben die Kinder aus Muhrau als mutig, lernfähig und anderen Kindern gegenüber offen.
Es ist kurz vor 12.00 Uhr. Gemeinsam wird der Tisch gedeckt. Die Kinder, die Salat auftun oder Saft eingießen, tragen gemusterte Schürzen. Sie nehmen ihre Aufgabe sehr ernst.
Nach dem Essen ist Mittagsruhe. Im Schlafzimmer mit den zehn dreistöckigen Bettchen herrscht ein Chaos aus Hosen, T-Shirts, Kleidchen und Strumpfhosen. Bis auf Alec gehen alle Kinder ins Bett. Sie müssen aber nicht schlafen. Es werden Märchen vorgelesen, Hörspiele oder Musik gehört.
Alec darf mit Michal im Spielzimmer bleiben, denn der hyperaktive Junge hält es nicht aus, länger als fünf Minuten stillzusitzen. Im Schlafzimmer würde er nur die anderen Kinder stören.
»Ohne unsere Hilfe könnten 80 Prozent der Kinder nicht in den Kindergarten gehen«, berichtet Arletta Drozdowicz. Der Besuch eines staatlichen Kindergartens kostet in Polen monatlich fast 200 Zloty. Das sind cirka 75 Euro – eine Summe, die die Eltern vieler Kinder nicht aufbringen können. Im Kindergarten Muhrau bezahlen die Eltern dagegen nur einen jährlichen (!) Beitrag von 140 Zloty. Die Verpflegung und Betreuung der Kinder ist damit fast kostenlos. Um dies beibehalten zu können, soll die Finanzierung des Kindergartens – neben Spenden – zunehmend durch eigene Einkünfte gesichert werden.
Der Kindergarten nutzt nur einen kleinen Teil des Schlosses. In den anderen Teilen gibt es Hotelzimmer und Seminarräume, in denen Sprachkurse und Veranstaltungen stattfinden, die dem Gedanken der Völkerverständigung dienen. Alle Einnahmen, die nicht für die Erhaltung des Hotels und der Bildungsstätte benötigt werden, fließen in die Finanzierung des Kindergartens, der sich dadurch im vergangenen Jahr zu 80 Prozent selbst erhalten konnte. Schon in ein paar Jahren, so hofft der Vorstand des Kindergartenvereins, wird man nicht mehr auf Spenden angewiesen sein.
Die Mittagsruhe ist um. Wer möchte, kann etwas essen, malen oder spielen. Ab 15.00 Uhr werden die Kinder abgeholt und nach Hause gefahren.
Nur der kleine Alec muss noch auf seine Mutter warten, die heute etwas länger als sonst in der Schlossküche zu tun hat. Aber da ist ja das rote Auto...
1 Name geändert.
Kontakt
Internet: www.morawa.org,
Tel.: 0048/74 854 97 30
030/280 941 46
Internet: www.kreisau.de
Tel.: +48-71-37 14 400
Spendenkonto für den Kindergarten in Murauh:
Kindergartenverein Hedwig e. V.
Sparkasse der Stadt Baden-Baden
Kontonummer: 7-075013
Bankleitzahl: 662 500 30
www.morawa.org
Das Haus Muhrau, im niederschlesischen Morawa unweit von Strzegom/ Striegau gelegen, das einen karitativen Kindergarten und eine deutsch-polnische Akademie beherbergt.
www.kreisau.de
Die Website der Stiftung Kreisau, die als Eigentümerin des Gutes und mit Mitteln der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit die Gebäude umbauen ließ und schließlich die heutige Begegnungsstätte errichtete. Die Bildungs- und Begegnungsstätte hat ihren Sitz auf dem ehemaligen Gut der Familien von Moltke in Kreisau.
www.stiftungwaisenhaus.de
Die Stiftung »Großes Waisenhaus zu Potsdam« wurde 1992 nach 40jähriger Unterbrechung rückwirkend wiederbelebt. Sie knüpft an die über 200jährige erzieherische Tradition und Arbeit des Waisenhauses an. Heute dient die Stiftung der Förderung innovativer, über das Regelangebot hinausgehender Projekte in der Kinder- und Jugenderziehung und betreibt Betreuungs-, Erziehungs- und Berufsbildungseinrichtungen für Kinder und Jugendliche.
www.dpjw.org
Das Deutsch-Polnische Jugendwerk (DPJW) widmet sich dem zunehmenden Interesse an deutsch-polnischen Begegnungen. Jahr für Jahr gelingt es, Programme zu fördern und junge Menschen zusammenzubringen.
www.dialogonline.org
DIALOG will einen Beitrag zum deutsch-polnischen Informations- und Meinungsaustausch leisten. Ziel ist, Informationsdefizite und Vorurteile abzubauen.
Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 08-09/06 lesen.