Tierlantuin ist eine Krippe in Gent (Belgien), wo das tägliche Vorlesen für und mit Kindern zum Standardprogramm gehört. Die Kinder entdecken ihre Lesefreude an vielerlei Orten und Gelegenheiten: in der gemütlichen Kuschelecke, im Geschichtenwald draußen im Garten und auch im maßgefertigten Kamishibai- Theater. Anke Vandekerckhove hat sie besucht.
Katrien Reynaert, die Leiterin der Einrichtung, erklärt gern, dass die Kinder genau die festgesetzten Abläufe – sog. Rituale – für das Geschichtenerzählen kennen. Vor dem Mittagessen ertönt ein Signal, die Kinder wissen, was es heißt und beenden augenblicklich ihr Spiel. Dann versammeln sich alle in der Leseecke, begierig die neue Geschichte zu hören. Das gleiche Signal ertönt für den täglichen Gang in den Garten, genauer zum Geschichtenwald, wo Aufregende erzählt wird über die Natur oder Elfen und Trolle, die dort leben. Natürlich können die Kinder selbst darum bitten, gemeinsam zu lesen. Das machen sie sogar häufig, denn Bücher liegen überall herum.
Jeden einbeziehen
Nicht nur die Erzieherinnen und Erzieher lesen den Kindern vor. Auch Eltern, Großeltern, Freunde und sogar Nachbarn werden willkommen geheißen vorzulesen oder zu erzählen. Die Einrichtung ist stets offen für sie. Darum fühlen sie sich einbezogen. Sie mögen es mindestens so wie die Kinder. Eltern haben berichtet, dass sie die Beachtung richtig finden, die hier den Büchern zuteil wird. Sie mögen Geschichten, weil diese die Phantasie der Kinder ebenso anregen wie die Sprachentwicklung. Die Krippenkinder habens sehr unterschiedliche sprachliche und kulturelle Wurzeln, so dass die gegenseitige Achtung sehr wichtig ist. Darum gibt es neben Büchern in der Landessprache Flämisch auch solche in anderen Sprachen. Kinder, die noch nicht so gut flämisch sprechen, fühlen sich einfach gut, wenn sie auch Geschichten in der ihnen vertrauten Familiensprache hören. Die Erfahrung zeigt, dass ihr Wohlbefinden sich positiv auf die Entwicklung im Allgemeinen auswirkt und nicht zuletzt auch auf den Erwerb des Flämischen. Hier in Tierlantuin sind Eltern mit anderen Sprachen gern gesehene Leseexperten.
Lest nun, was sich typischerweise Nachmittags zuträgt...
Marieke, die Tante eines der Kinder, und Zeliha und Souhir, zwei Mütter, kommen in die Krippe, um zu lesen. Während Zeliha und Souhir in die kuschelige Leseecke gehen, begibt sich Marieke zur Geschichtenecke in einen Nebenraum. Kinder, die in Stimmung für Bücher sind, begeben sich dorthin. Drei Erzieherinnen bleiben bei den übrigen Kindern. Jedes Kind hat die Chance etwas in seiner Familiensprache zu hören. Es wird allerdings darauf geachtet, dass die Lesegruppen nicht zu groß werden, dann leidet die Aufmerksamkeit, und die Kinder werden leichter abgelenkt. Wenn alle bequem sitzen, geht es los. An diesem Nachmittag handelt die Geschichte von »Nijntje«. Zeliha liest auf arabisch, sie sagt »Naynti«, doch alle Kinder erkennen sofort das Kaninchen, um das es hier geht. Nach dem Anfang auf arabisch, dreht sie das Buch zu den Kindern und erklärt auf flämisch, was sie zuvor gelesen hat. Nun hören nicht mehr nur die arabisch verstehenden Kinder aufmerksam zu. Auch die Finger der anderen zeigen auf das Buch und die Kinder übersetzen auf ihre Art. Dann kommt Souhir an die Reihe mit einer weiteren Geschichte über Naynti, dieses Mal mit Hühnchen, die im Laufe der Geschichte öfter gezählt werden müssen.
Souhir liest in türkisch und flämisch, es hört sich lustig an. Es ist das erste Mal, dass sie zum Vorlesen nach Tierlantuin kommt. Ganz offensichtlich ist sie eine versierte Geschichtenerzählerin mit vielfältigen Ausdrucksweisen und verschiedenen Stimmlagen. Sie fasziniert die Kinder, auch hält sie sie mit Zwischenfragen bei der Stange. So fühlen sie sich richtig einbezogen, machen selbst Geräusche wie Hühnchen und zählen mit. Auch nebenan geht es aufregend zu, so scheint’s. Marieke liest über einen Bären mit einem ganz zarten Bauch. Die zuhörenden Kinder können den Bauch buchstäblich fühlen.
Ankie Vandekerckhove arbeitet im VBJK Zentrum für Innovation der frühen Jahre. Diese Artikel geht auf den von N. Van Laecke zurück, der in der Zeitschrift Kiddo Heft 7/2013 erschien. Sie ist Mitglied im Netzwerk Kinder in Europa.
Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe KINDER in Europa 29/15 lesen.