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Geschichten von großen und kleinen Transitionen
Ob Auseinandersetzungen der Kinder mit den Überraschungen, Herausforderungen und Widrigkeiten der Welt Übergänge, Wiederholungen, Ausdruck von unfassbarem Durchhaltevermögen, Rückzieher oder Anläufe zum nächsten Schritt darstellen, lässt sich meist schwer ausmachen – und oft erst im Nachhinein erkennen. Wie gelingt Transition? Unser Aufruf nach Geschichten unserer Leser:innen ergab einen bunten Strauß an magic moments.
Kind am Draht
Als Noah reinkommt, ist der Tisch bereits vorbereitet. Ein Blick, eine Frage: »Gundi, was ist das denn?« »Mh …, was glaubst du?«, frage ich zurück. Noah nimmt es in die Hand und kommentiert: »Boah, das ist ganz hart. Ich glaub, das ist Metall. Kann man damit bauen?« Wieder frage ich zurück: »Was können wir denn damit bauen?« Der Junge deutet in die Ecke, in der wir unser Holz lagern, und sagt: »Mit dem hier: ein Haus. Aber die Spitze tut ein bisschen weh. Irgendwie sieht es aus wie Wolle, aber in hart.« Dann nimmt er sich die Zange, betrachtet den Draht mehrmals schräg von allen Seiten, wickelt und knipst schließlich etwas davon ab. Dann weckt eine mit Draht umwickelte, aus Zeitungspapier zusammengeknüllte Kugel sein Interesse, die ich ebenfalls mit auf den Tisch gelegt hatte. Noah will jetzt auch solch eine Kugel machen und knüllt einige Lagen des ebenfalls bereitliegenden Zeitungspapiers zusammen. Dann meint er: »Ich brauche etwas Dickes zum Reinpieksen.« Dafür habe ich ihm den Anfang gemacht. Das Wickeln des Drahtes um das zusammengeknüllte Zeitungspapier fällt Noah schwer. Man muss den Draht mit der einen Hand abwickeln, festhalten und strammziehen, damit man ihn mit der anderen gut um die Kugel legen kann. Draht verhält sich widerspenstig.
Er ist nicht so einfach zu ziehen wie Wolle. Dann sagt Noah: »Ich brauche Hilfe, das ist schwer.« Ich helfe ihm wieder ein bisschen. Als er dann um die mit Draht umwickelte Zeitungskugel eine weitere Lage Papier legen will, frage ich ihn: »Was hast du vor?« Er antwortet kurz und knapp: »Noch größer.« Ich halte die bereits mit Draht umwickelte Zeitungskugel fest und Noah umwickelt sie nochmals mit Zeitungspapier. Dann löst sich der Draht. Alles fällt auseinander. Noah sagt: »Ich kann das so nicht so gut aufrollen.« Und dass er eine Pause braucht. Genau in diesem Moment kommt eine Kollegin herein und fragt, ob er an der Geburtstagskarte für Ela mitarbeiten möchte. Er sagt, dass er das sofort macht – und das hat er dann auch gleich und an Ort und Stelle getan. Sein bester Kumpel Toni redet ihm wegen der abgebrochenen Arbeit an der Metallkugel dabei die ganze Zeit ins Ohr. Bis Noah zu ihm sagt: »Sei mal ruhig, ich muss mich konternieren.« Wir haben dann das Atelier geschlossen, damit ich meine Pause machen kann. Nach meiner Pause ist auch Noah wiedergekommen und hat gleich die Drahtzange und seine drei Drahtspulen – eine silberne, eine braune und eine grüne – an seinen Platz geholt und ein bisschen sortiert.
Jetzt, in der zweiten Runde, findet er das Schneiden des Drahtes zunächst interessanter als das Umwickeln. Dann aber will er doch anfangen, eine nächste Zeitungskugel zu umwickeln, und fragt: »Wie soll ich anfangen?« Nachdem ich ihm wieder den Anfang gemacht habe, sagt er: »Das ist wie Wolle, nur nicht so weich.« In seinem Gesicht sehe ich, wie konzentriert er ist, weil es so anstrengend ist. Gleichzeitig müssen die kleinen Hände die Papierkugel festhalten und den Draht ziehen. Noah nimmt dafür dann seinen ganzen Körper zur Hilfe. Er stellt sich an die Tischkante und legt die Kugel so davor, dass sie nicht herunterfallen kann. Mit der einen Hand hält er die Kugel am Bauch fest und mit der anderen versucht er, sie zu wickeln. Als der Draht wieder abspringt, flucht Noah: »Mann, ey, ich brauch jetzt doch noch mal ne Pause.« Er legt seine Sachen in sein Fach im Schrank, und ich denke, er kommt morgen oder in den nächsten Tagen wieder und testet es noch mal.
Gundi Bahr ist Atelierista in der Inklusiven Kindertagesstätte der Stadt Unkel
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Ich schaff das!
Es ist Samstagmorgen, Benefizlauf der Kita. Die Sonne lacht, Eltern feuern an, Kinder rennen. Und mittendrin: mein jüngerer Sohn – fast drei Jahre alt. Vor zwei Jahren hatte ich ihn noch im Kinderwagen durch die Runden geschoben. Im letzten Jahr lief er zwei kleine Runden, kurze Beinchen, stolzer Blick. Und diesmal? Sechs Runden. Fast ganz alleine. Nur ab und zu brauchte er eine starke Schulter zum Festhalten – dann zog er weiter, mit einer Entschlossenheit, die größer war als seine Schritte. Ich sah, wie er keuchend, aber grinsend weiterlief. Wie er stehenblieb, Luft holte, dann wieder anlief. Es war, als würde ihn eine unsichtbare Schnur von Entwicklungsschritt zu Entwicklungsschritt ziehen – voller Stolz, Ehrgeiz und diesem inneren Wunsch: Ich schaff das! Man konnte sie förmlich greifen, diese unsichtbare Kraft, die ihn vorantrieb. Kein Preis, kein Pokal, keine Belohnung – nur der Wille, es selbst zu schaffen. Es sind nicht die großen Sprünge, die Entwicklung zeigen. Es sind die vielen kleinen Schritte, die plötzlich ein ganzes Stück Weg ergeben. Paulo Coelho sagte einmal: »Ein Kind kann einem Erwachsenen drei Dinge beibringen: grundlos glücklich zu sein, immer mit etwas beschäftigt zu sein und zu wissen, wie es mit aller Kraft das einfordern kann, was es sich wünscht.«
Florian Esser-Greassidou arbeitet als Qualitätsleitung in der Standortführung beim überregionalen Träger Villa Luna.
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Zum ersten Mal
Einem 18 Monate alten Mädchen habe ich eine kleine Papierkarte im Format DIN A6 und zwei Stifte hingelegt. Sie ist zum ersten Mal mit mir am Ateliertisch. Sie ist etwas verlegen, greift dann aber doch neugierig nach dem dicken blauen Marker. Sie macht Spuren auf dem Papier. In alle Ecken und in der Mitte. Ich begleite das Kind zurückhaltend und spreche bewusst wenig. So kann es seine Gedanken formen, Angebote entdecken und überhaupt zunächst einmal ankommen. Sie möchte noch eine Papierkarte – und noch eine. Dazu muss man vielleicht wissen, dass ich zum Anfang eines Workshops immer nur kleine DIN-A6-Karten anbiete. Das ist zum einen nachhaltig, zum anderen können Kinder so in ihrem eigenen Tempo arbeiten und verschiedene Sachen ausprobieren. Ich brauche nie zu sagen: »Ist dein Blatt echt schon fertig? Es ist doch noch halbleer.« Es ist wichtig, dass ein Kind darüber selbst entscheiden kann. Ein weiteres kleines Blatt reiche ich immer gern nach. Inzwischen wirkt das Kind gar nicht mehr verlegen, sondern im Flow. Etwas später gebe ihr ein paar Sticker zum Aufkleben. Dann möchte sie noch mit der Schere arbeiten. Nach etwa einer halben Stunde merke ich, dass sie fertig zu sein scheint. Vielleicht möchte sie auch noch mit Farbe malen? Ich schiebe ihr einen grünen Farbnapf zu, später auch noch einen mit dunkelgrüner und einen mit blauer Farbe. Dazu noch eine kleine Schale mit Wasser. Dann zeige ich ihr, wie man den Pinsel lange auf dem Farbnapf dreht, damit er sich mit Farbe vollsaugt.
Das Mädchen ist jetzt gar kein bisschen mehr verlegen. Sie fängt an zu malen, nimmt sich aufmerksam und interessiert ein Blatt nach dem anderen. Filzstifte, Sticker und Schere lasse ich inzwischen wieder in meine Kris-Kras-Kulturtasche verschwinden. Da jetzt nass gearbeitet wird, ist das sicherer für die Materialien, und der Tisch bleibt übersichtlich, was Konzentration und Ruhe fördert. Auch mit dem Pinsel hat das Kind noch mal eine gute halbe Stunde gemalt. Sie strahlt, als ich frage, ob wir bald wieder einmal ins Atelier gehen sollen. Kinder wollen spielen, untersuchen, entdecken und ausprobieren. Dafür brauchen sie eine inspirierende Lernumgebung, die forschendem Lernen und freiem Spiel Raum gibt. Mit überraschend einfachen Mitteln ist es möglich, Kindern die hierfür geeigneten Materialen, Spielangebote und kreativen Impulse anzubieten. Das muss auch nicht viel kosten – erfordert aber ein anderes Mindset im Kreativbereich als das gewöhnliche. Eines, wo wir nichts vormachen, sondern die jungen Kinder mit gutem Material begleiten und in ihr Können vertrauen. Atelierarbeit lehrt uns, dass Kreativität nicht Chaos bedeutet – sondern das Gegenteil: Flow und Konzentration, Freude, Entdecken und echten Kontakt!
Sabine Plamper ist Kulturpädagogin und lebt und arbeitet in Amsterdam.
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www.atelierineenkoffer.nl/publicaties