Erfahrungen teilen
Während ich hier sitze und diesen Beitrag schreiben will, bläst mir der Wind die noch weißen Blätter vom Tisch. Dieser banale Zwischenfall bewirkt, dass ich über Loris Malaguzzi schreibe.
Malaguzzis Ideen halfen uns vor langer Zeit, Fenster und Türen zu öffnen und frische Luft in die Kindergärten und Schulen strömen zu lassen. Aus meiner Sicht war das einer seiner großen Beiträge: die Sinne zu öffnen, Vorurteile aufzulösen, an Gewissheiten zu zweifeln – und zwar durch konstantes Infragestellen der Realität innerhalb und außerhalb der Einrichtung.
Man kann Loris Malaguzzis Persönlichkeit nicht von seiner Arbeit trennen. Sein pädagogisches und politisches Denken war eng mit seinem sozialen Engagement verbunden. Seiner Ansicht nach stand das Kind in Mittelpunkt jedes pädagogischen Handelns, das dazu dienen sollte, seine Möglichkeiten zu entdecken und zu entwickeln.
Viele Fachkräfte in der frühkindlichen Bildung – akademisch ausgebildet oder nicht – lernten die Pädagogik in den städtischen Krippen und Kindergärten Reggios kennen. Auch Politiker, Forscher und viele andere Menschen erfuhren davon. Reggio ist eine europäische Realität, die niemanden gleichgültig lässt. Vielleicht ist auch das einer der großen Beiträge: Reggio kann jeden überraschen und zieht Aufmerksamkeit auch dort auf sich, wo es andere Traditionen gibt.
Es ist interessant festzustellen, wie viele unterschiedliche Interpretationen von Reggio es gibt. Verschiedene Sichtweisen und Standpunkte führten dazu – manche mehr, andere weniger begründet. Die Reaktionen auf Reggios offene Fenster sind ebenfalls verschieden. Menschen, die erkennen, dass die Wirklichkeit ihre Träume übertreffen kann, können verwirrt, handlungsunfähig oder auch frustriert reagieren.
Malaguzzis Stärke lag darin, einen pädagogischen Traum wahr werden zu lassen, der auf den Ideen der großen Vorgänger und ihrer zwar alten, aber immer neuen Pädagogik fußt. Seit Comenius, seit Jahrhunderten rückten sie die Kindheit ins Zentrum ihres Nachdenkens und Handelns – als aktive Kindheit inmitten der Gesellschaft, also nicht isoliert. Bildung auf Reggio-Art vollzieht sich weder in einer einzelnen Einrichtung noch im Labor; sie bezieht das gesamte gesellschaftliche Umfeld ein.
Reggios Krippen und Kindergärten, das Leben darin und die Aktivitäten der Kinder, sollten oder sollen öffentlich sichtbar und bekannt sein. Darum legte Loris Malaguzzi so viel Wert darauf, dass die pädagogische Arbeit dokumentiert wird, gründete Zeitschriften wie Zero Sei (Null bis sechs) und Bambini (ein Partner im Netzwerk Kinder in Europa), veröffentlichte Bücher und schuf Ausstellungen, um die Menschen überall erreichen zu können. Er handelte, dokumentierte, diskutierte, machte bekannt ... und begann von vorn. Er war oft rastlos.
Am Prozess der Dokumentation waren viele Menschen beteiligt: Kinder, Fachkräfte, Experten unterschiedlicher Professionalität, Familien und das Gemeinwesen. Auch Menschen aus anderen Ländern, aus der ganzen Welt wurden einbezogen. Dadurch erhielt Malaguzzi ständig neues Gedankenfutter und blieb offen für seine Umgebung.
Bei einem meiner letzten Besuche in Reggio erlebte ich einen schwedischen Minister, der ein wundervolles Gedicht über das vortrug, was Malaguzzi ihn se-hen gelehrt hatte. Der Minister war blind. Aber ich denke auch an Kindertageseinrichtungen in den Niederlanden, die ihre reggianischen »Nachbarn« bis ins kleinste Detail kopierten.
In Spanien, glaube ich, haben wir Glück gehabt, weil wir früh mit »Reggio« in Berührung kamen. Die Ausstellungen »L’occhio se salta il muro« (in Deutschland: »Das Auge schläft, bis es der Geist mit einer Frage weckt«1 und »Hundert Sprachen hat das Kind«) wurden in vielen spanischen Städte gezeigt, und es gab begleitende Fortbildungen. Außerdem nahmen viele spanische Fachkräfte an langfristigen Fortbildungen in Reggio teil. Doch ich möchte behaupten, dass es, von Pamplona abgesehen, hier nirgends »Malaguzzi«-Einrichtungen gibt – so wie die »Freinet«- oder »Montessori«-Einrichtungen.
Das dürfte Malaguzzi gefallen haben. Er wollte nicht reproduziert werden. Zweifellos ist er eine der mächtigsten Quellen pädagogischer Inspiration der letzten 35 Jahre. Er nahm an so vielen »Sommer-Universitäten«2 und Konferenzen teil, dass seine Pädagogik noch immer nachwirkt, weil sie von den Kolleginnen und Kollegen fortgeführt wird.
Wir in Katalonien und Spanien müssen uns eingestehen, dass nicht viele Menschen mit ähnlichem Veränderungswillen ans Werk gehen. Dennoch stimmt, dass es viele, darunter auch junge Aktive gibt, die Tag für Tag frischen Wind in ihre Einrichtungen bringen.
Es geht nicht darum, den Reggio-Ansatz einzuführen oder nach der Reggio-Methodik zu arbeiten. Vielmehr versuchen wir, unsere Bildungs-Beziehungen mit und zu Kindern schrittweise zu verbessern. Wir vertrauen auf die Kinder und ihre Potenziale, möchten die Möglichkeiten der Kinder erweitern, viele Sprachen zu nutzen, und berichten im Kollegenkreis von unseren Erfahrungen.
Irene Balaguer ist Lehrerin und Präsidentin von Associatió de Mestres Rosa Sensat (Barcelona/Katalonien). Rosa Sensat bildet unter anderem Pädagogische Fachkräfte aus und fort.
1 Siehe S. 35 (von der Beek)
2 Jährliche Fortbildungskongresse in Barcelona für Pädagogen, organisiert von Rosa Sensat: www.rosasensat.org
Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe KINDER in Europa 26/14 lesen.
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