Übergänge verstehen und begleiten
Wilfried Griebel und Renate Niesel vom Staatsinstitut für Frühpädagogik in München geben uns einen Überblick über die aktuelle Forschung zum Thema Übergänge. Sie verbinden dies mit Folgerungen für die pädagogische Praxis.
Wie bewältigen Kinder die Übergänge von der Familie in die Kindertageseinrichtung, von dort in die Grundschule, von der Grundschule in weiterführende Schulen? Ein gelungener Übergang in das formale Schulsystem soll allen Kindern gute Chancen für Bildung eröffnen. Dazu ist die Kooperation zwischen Kindergarten und Schule wichtig, aber auch das Einbeziehen der Eltern. Ein theoriegeleitetes Konzept dient der Entwicklung, Umsetzung und Überprüfung von pädagogischen Maßnahmen zur Begleitung des Übergangs.
Transitionsforschung:
Theorie leitet das Verständnis
In der internationalen Forschung lässt sich ein eher soziologisch-anthropologischer Theoriestrang feststellen mit Schwerpunkt in den Ländern, die englische Literatur zur Kenntnis nehmen (Vogler u.a., 2008). Das Augenmerk liegt hier auf dem Wechsel zwischen Kulturen und auf dem Kind als Lerner. Dabei werden »vertikale«, altersbedingte Übergänge zwischen Kindertagesstätte, Primarstufe und Sekundarstufe ebenso als Transitionen angesehen wie »horizontale« Übergänge, die sich im Tagesablauf ereignen, z.B. als Wechsel des Kindes zwischen Kindertagesstätte und Schule oder des pädagogischen Settings in Familie, Tagesbetreuung und Bildungseinrichtung, manchmal sogar zwischen Unterrichtstunden. Kontinuität und möglichst wenige Veränderungen gelten hier als oberste Richtschnur (Dunlop, 2007).
In den deutschsprachigen Ländern hat sich demgegenüber ein entwicklungspsychologischer Theorieansatz durchgesetzt (Griebel & Niesel, 2011). Hier geht es um die Status- und Kompetenzveränderungen der Beteiligten beim Durchlaufen des Bildungssystems (»vertikale« Übergänge). Dabei wird vor allem darauf geachtet, wie Brüche (Diskontinuitäten) bewältigt und als Entwicklungsimpuls genutzt werden. Neben der Erforschung der Perspektive des Kindes interessieren mehr und mehr die Perspektive und die Bedeutung der Eltern für die Bildungslaufbahn der Kinder.
Zum entwicklungspsychologischen Transitionskonzept haben mehrere Theoriestränge beigetragen.
(a) Als allgemeine Grundlage dient das Modell von Bronfenbrenner, nach dem jede Entwicklung in Auseinandersetzung mit der sozialen Umgebung stattfindet.
(b) Im Rahmen der Stressforschung können Belastungsreaktionen erklärt werden. Überlastungsreaktionen z.B. sind vermeidbar, wenn Veränderungen im Lebensumfeld des Kindes gering gehalten, wenn sie vorhersehbar und kontrollierbar gestaltet werden. Zudem ist zu berücksichtigen, ob eine bevorstehende Veränderung eher als Bedrohung oder als Herausforderung erlebt wird.
(c) Veränderungen im Lebensumfeld des Kindes, wie z.B. der Übergang in die Schule, lassen sich als kritische Lebensereignisse betrachten, die auch die Eltern betreffen. Ihre Transition zu »Eltern eines Schulkindes« ist ebenfalls Gegenstand der Forschung.
(d) Lern- und Entwicklungsprozesse werden in der Interaktion des Einzelnen mit seiner sozialen Umgebung als soziale Konstruktionen verstanden.
Den Übergang strukturieren:
Entwicklungsaufgaben für Kind und Eltern
Die wichtigsten Ergebnisse internationaler Forschung lassen sich so umreißen: Unabhängig davon, wie unterschiedlich die vorschulischen Einrichtungen in den einzelnen Ländern organisiert sind, ist der Eintritt des Kindes in das formale Schulsystem ein bedeutender Entwicklungsabschnitt für das einzelne Kind und seine Familie. Der Übergang in die Schule ist für die Kinder in verschiedenen Bereichen mit Anforderungen verknüpft, die in einer Struktur von Entwicklungsaufgaben näher beschrieben werden können. Deren Bewältigung macht den Übergang aus. Analog dazu lassen sich die Aufgaben für ihre Eltern beschreiben:
a) auf der Ebene des Einzelnen: seine Identität verändern, ein Schulkind werden; starke Emotionen wie Ängste und Vorfreude bewältigen; Kompetenzen erwerben als Lerner. Entsprechendes gilt für die Eltern, die sich in ihrer Identität zudem mit dem Verlust an Kontrolle über das Kind und seine Bildung auseinandersetzen müssen.
b) auf der Ebene der Beziehungen: neue Beziehungen aufnehmen zur Lehrkraft und anderen Kindern; die Veränderung bzw. den Verlust bestehender Beziehungen verkraften; die Rolle als Schulkind erfahren: Was wird von ihm erwartet und was passiert, wenn diese Erwartungen nicht erfüllt werden?
c) auf der Ebene der Lebensumwelten: Zwei oder mehr Lebenskontexte miteinander in Einklang bringen im Tages-, Wochen- und Jahresablauf: Familie und Schule; sich mit einem neuen Curriculum auseinandersetzen; unter Umständen sind weitere familiale Veränderungen wie die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit eines Elternteils, die Geburt eines Geschwisters oder die Trennung der Eltern zu bewältigen.
All dies erfährt das Kind als Diskontinuitäten. Die damit verbundenen Anforderungen werden als Entwicklungsaufgaben aufgefasst, um den motivationalen, herausfordernden Charakter stärker zu betonen. Überforderung ebenso wie Unterforderung sollen vermieden werden. So ist es möglich, die einzelne Aufgabe mit den individuellen Voraussetzungen des Kindes abzustimmen. Die Kinder müssen diese Entwicklungsaufgaben ebenso bewältigen wie ihre Eltern die ihren. Fach- und Lehrkräfte, das soziale Netz und gegebenenfalls spezialisierte Dienste begleiten sie dabei.
Wilfried Griebel und Renate Niesel forschen im Staatsinstitut für Frühpädagogik (IfP) in München; Wilfried Griebel engagiert sich als Ko-Koordinator der Arbeitsgruppe an »Transitionen« bei EECERA;
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Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Kinder in Europa 22/12 lesen.
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