Herausgeberin Bronwen Cohen macht uns mit dem Begriff »Ortssinn« bekannt und erkundet, wie Kindertageseinrichtungen und Schulen die Sinne der Kinder für ihren »Ort« schärfen und zur Entwicklung der Persönlichkeiten beitragen können.
In einem Interview für diese Ausgabe von KINDER in Europa stellt der Künstler John Bellany fest: »Das Reden über die Kindheit tut gut – ich male sie schon so lange.« Seine Kunst bezeugt einen starken Einfluss von den Orten seiner Kindheit: der See, den Booten, den Fischen, den Menschen. Er trägt seine Kindheit bei den Fischern der schottischen Ostküste noch in sich, obwohl beides für ihn schon lange Vergangenheit ist.
Der kanadische Neurologe Endel Tulving erforschte, dass Orte die Rolle von »Signalen der Erinnerung« einnehmen können, selbst wenn sie aktuell nicht aktiv sind. Noch Jahrzehnte später kann die Verbindung mit bestimmten Orten oder Ereignissen Erinnerungen wachrufen. Ein Ort kann als Erinnerungsstütze dienen.1
Psychologen erklären uns, dass unsere Erfahrungen mit und unser Verstehen von »Orten«, der physischen Umwelt mit ihren sozialen Gegebenheiten sowie die Bedeutung, die wir allem beimessen, uns lebenslang beeinflussen – ebenso wie unsere Familie.
»Wir leben, arbeiten, lernen und erzählen in einem Bedeutungsraum, der von Menschen erschaffen wird, mit denen man lebt, etwas unternimmt und erfährt, Wissen teilt sowie Fertigkeiten und Einstellungen über die Welt, auf rituellem oder symbolischem Wege. Unser individuelles Schicksal und unsere einzigartigen persönlichen Geschichten hängen von Stärke und Stolz des Mit-Teilens ab und von der Zuwendung und Poesie, mit denen unsere Familien und unser Gemeinwesen uns während unserer gesamten Entwicklung annehmen und tragen und auch davon, was wir ihnen zurückgeben.«2
So ist ein »Ort« weniger ein Objekt als ein Prozess. Wirklich wird er durch unser Handeln und Engagement. Aber der »Ort« und das Gemeinwesen können, fast wie die Familie, das Leben von Kindern formen, ihre Persönlichkeit, sozialen Beziehungen, Einsichten in die Welt. Der »Sinn für den Ort« – Bewusstsein und Gefühl gleichermaßen – umfasst Gegenwart und Vergangenheit: frühere Beziehungen vermittelt durch die Familie, das Gemeinwesen, die Tageseinrichtung. Der »Ortssinn« mag mit wachsendem Alter sogar in die Zukunft reichen, sowohl in die eigene als auch in die der Umgebung.
Diese Ausgabe erörtert die Bedeutung des »Ortes« und der Nachbarschaft mit ihren Beziehungen zu Kindertageseinrichtungen aus unterschiedlichen Perspektiven. Wir schauen zuerst auf die Aufgabe der Einrichtungen, die Lebenswelt der Kinder zu verbessern und die räumliche Einengung der den Kindern zugänglichen Welt auszugleichen. Rita Haberkorn vertritt die Ansicht, dass Kinder heutzutage kaum mehr ihre Spielkameraden »vor der Tür« treffen. Das Kinderleben spielt sich auf Inseln ab, die durch Erwachsene organisiert werden. Sie ruft Kindergärten auf, das Leben herein zu lassen und Kontakt zu Nachbarn und Gemeinwesen aufzubauen. Marzena Lotys berichtet, was Kinder über sich sagen und über die Möglichkeiten, die ihnen Tageseinrichtungen in ländlichen Teilen Polens bieten. Krzyś, fünf Jahre alt, beklagt sich, dass er im Gegensatz zu seinem Cousin nicht zur Vorschule gehen kann, weil es gar keine gibt: »Mir ist langweilig.«
Wir untersuchen den Beitrag von Tageseinrichtungen, um Kindern das Verstehen des »Ortes« und des Gemeinwesens zu erleichtern. Auf einer Konferenz vor einigen Jahren wurde festgestellt, dass gemeinwesenorientiertes Lernen keine neue Idee ist. Der amerikanische Pädagoge John Dewey beschrieb bereits zum Ende des 19. Jahrhunderts, als ein Problem von Schulen, die den Kontakt zum Umfeld verloren haben: »Vom Standpunkt des Kindes liegt die große Vergeudung der Schule darin, dass es drinnen keine seiner ganzheitlichen und freiwilligen Erfahrungen von außerhalb gebrauchen kann, während es auf der anderen Seite im täglichen Leben nichts von dem anwenden kann, was es in der Schule lernt.«3
Mittlerweile ist das nicht nur ein Thema der Pädagogik, sondern auch der Gemeinwesen. Norwegen verfügt über eine beachtliche Erfahrung im gemeinwesenorientierten Lernen. Schulen und Kindergärten in der Stadt und auf dem Land nutzen ihre Umgebung ausgiebig. Karl Jan Solstadt und Anne Sofie Skogvold berichten uns, warum das so ist, und Wenche Rønning beschreibt, wie Bauernhofkindergärten dazu beitragen, dass auch die Jüngsten ihre Umwelt mögen und verstehen.
Doch auch anderswo begeben sich Kindergärten und Schulen auf diesen Weg. Eines von vielen Beispielen beschreibt Will Coleman. Die Grundschule eines Fischerstädtchens im Südwesten Englands entwickelte ihr eigenes Projekt.
Das Lernen über einen »Ort« – und in ihm – stärkt die Persönlichkeitsentwicklung junger Kinder. In den Ausgaben 12 und 13, erkundete KINDER in Europa, was das für einheimische und zugewanderte Kinder heißt, für die ein »Ortssinn« viele Bedeutungen haben kann. In diesem Heft gehen wir den Beziehungen zwischen Ort, Kultur und Identität und Kindern nach. Sowohl in Neuseeland als auch in Norwegen ermutigten die Regierungen zur Entwicklung gemeinwesenorientierter Curricula, indem sie sie als Teil von Bildungsreformen anerkannten. In Neuseeland geschah dies 1989 auch mit Blick auf den multikulturellen Charakter des Landes.
Aroaro Tomati and Erana Hond-Flavell stellen uns die Arbeit einer Kindertageseinrichtung vor, in der die Māori-Sprache gesprochen und das Konzept der whānau die Grundlage bildet. Das Konzept der »erweiterten Familie« drückt den Willen aus, die eigene Kultur, das Geschichtswissen, die Identität und die Zugehörigkeit der Māori zurückzugewinnen.
Chris Pascal und Tony Bertram berichten über das länderübergreifende Projekt »Kinder überschreiten Grenzen«, das die Geschichten von Eltern und Kindern mit Migrationshintergrund dokumentiert. Clare Meade and Karen Fairfax–Cholmeley beschreiben generationsübergreifende Bildungsprogramme in und für Familien, wie sie in England speziell für benachteiligte städtische Gegenden entwickelt wurden. Das gegenseitige Erzählen von Geschichten innerhalb der Familie und in der Nachbarschaft kann zum gegenseitigen Verstehen unterschiedlicher Kulturen beitragen. Das Konzept der »lernenden Familie« setzt auf das Wissen und den kulturellen Reichtum in den Familien, unterstellt Eltern weder Erziehungsdefizite noch Mängel im pädagogischen Wissen. Eine ganz ähnliche Botschaft kommt von Jagoda Novaks Projektbericht über die Bildungserfolge von Roma-Kindern in Kroatien.
Tageseinrichtungen, auch bereits in früher Kindheit, und Grundschulen können eine wichtige Rolle für die Kinder beim Entdecken der Welt und der eigenen Persönlichkeit spielen. In vielen ländlichen Gegenden, vor allem mit geringer Bevölkerungsdichte, aber kann der Zugang zu Bildung zum Problem werden. Wir schauen hier auf Versuche und Modelle, dies zu überwinden. Francesco Di Iacovo berichtet aus der Toskana über eine erfolgreiche Zusammenarbeit in der Region. Er stellt die Vorzüge dar, die intensive Beziehungen zwischen Stadt und Land bewirken, besonders wenn dazu noch multifunktionelle, innovative soziale Dienste passgenau entwickelt werden. Di Iacovo and Grazia Faltoni beschreiben, was die neuen Modelle für die Toskana bedeuten, während Anna Polloni dies für die Emilia Romagna tut. Unterstützt wurde die Entwicklung durch veränderte Gesetzgebungen und finanzielle Unterstützung, einschließlich durch Gelder der EU.
Eines der Probleme ländlicher Gegenden ist, dass staatliche Entwicklungsprogramme häufig auf die städtischen Anforderungen zugeschnitten sind. Eine Initiative der portugiesischen Regierung aus den frühen 1990er Jahren führte zu »Schulgruppierungen«; sie erwiesen sich als hilfreich für ländliche Regionen. Luis Ribeiro erzählt, wie die Schulen in Portel verschiedene Aktivitäten für Kinder, Familien und Gemeinwesen entwickelten und so die Identität ihrer Orte stärkten.
Eric Rossi begründet, warum Frankreich, will es seine anspruchsvollen Ziele wirklich erreichen, für seine ländlichen Gebiete neuartige Angebote finden muss.
Im Unterschied dazu, lesen wir bei Pauline Ansel-Henry, wie Dänemark ein etwas anderes geographisches Problem gelöst hat: Wie können Stadtkinder das Landleben erleben? Wir erfahren etwas über die Geschichte der Bauernhofkindergärten und über Forschungen in Schweden über den Wert solcher Einrichtungen. (In Heft 19 schauen wir dann detaillierter hin.)
Schließlich, was macht eigentlich die EU in diesen Angelegenheiten? Androulla Vassiliou, die EU-Kommissarin für Bildung, Kultur, Mehrsprachigkeit und Jugend, erläutert, wie die Europäische Union lebenslanges Lernen auf dem Lande und in der Stadt unterstützt. Eine neue Rahmenstrategie identifiziert Bildung und Betreuung in früher Kindheit seit 2009 als ein Entwicklungsthema; ein weiteres mit EU-Beteiligung ist die Entwicklung ländlicher Gebiete. Beispiele dafür stellt dieses Heft vor.
John Bryden, der Präsident des »Internationalen Ländlichen Netzwerks« meint, dass auf EU-Ebene noch mehr getan werden muss, um Qualitätsindikatoren für Tageseinrichtungen und Schulen zu unterstützen, die wichtiger für örtliche Belange, als die »zu eng konzipierten« sind, welche manche Mitgliedsländer zur Zeit nutzen, weil passendere noch fehlen. Die so genannten PISA-Indikatoren, außerhalb der EU entwickelt, beeinflussen Kindergärten und Schulen, und sind, so Bryden, besonders wenig hilfreich in ländlichen Gegenden.
Diese Ausgabe von KINDER in Europa geht dem Interesse nach, wie wir die Kinder unterstützen können, einen »Ortssinn« zu entwickeln, und stellt viele Beispiele dafür vor. Sie zeigen auch den Beitrag zur ökonomischen, sozialen und kulturellen Entwicklung ihrer Gemeinwesen. Doch viel mehr könnte und sollte getan werden, diese Beispiele verfügbar zu machen. Lösungen für Probleme mögen lokal zu finden sein, doch voneinander zu lernen, Entwicklungen zu evaluieren und zu erforschen erfordern ein eher systematisches Konzept für ganz Europa und viel bessere Informationen über Einrichtungstypen in städtischen, Vorort- und ländlichen Gebieten – und auch eine EU-Definition hierfür.
1 Tulving E (2005) Episodic memory and autonoesis. In Terrace & Metcalfe (eds) The Missing Link in Cognition. NY, OUP.
2 Frank B and Trevarthen C (forthcoming) Intuitive Meaning: Supporting Impulses for Interpersonal Life in the Sociosphere of Human Knowledge, Practice and Language. In Foolen et al Moving Ourselves, Moving Others: The Role of (E) Motion for Intersubjectivity, Consciousness and Language. John Benjamin.
3 Cited, Arkleton Trust (2004) Place-based Education and Rural Development. www.arkletontrust.co.uk
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