Vielfalt im Situationsansatz
Lenas Eltern arbeiten beide bei einer großen Supermarktkette in Berlin, die dafür bekannt ist, die Mitarbeiter nicht besonders gut zu bezahlen. Lenas Mutter arbeitet im Schichtdienst als Kassiererin, Lenas Vater ist Filialleiter mit unregelmäßigen, oft extrem langen Arbeitszeiten. Lenas Kindertageseinrichtung hat – wie die meisten ?– montags bis donnerstags von 6.30 bis 17.30 Uhr geöffnet; freitags bis 16.30 Uhr.
Wenn Lenas Mutter Spätdienst hat, fahren die Eltern die Zweijährige ins etwa 120 Kilometer entfernte Prenzlau zur Oma, wo sie über Nacht bleibt.
Vor kurzem haben Lenas Eltern einen Kindergarten für ihre Tochter gefunden, der direkt auf ihrem Weg zur Arbeit liegt und bei Bedarf abends bis 21.00 Uhr geöffnet ist.
Lenas neuer Kindergarten arbeitet nach dem Situationsansatz. Dieses pädagogische Konzept macht die komplexe und widersprüchliche Lebenssituation der Kinder und ihrer Familien zum Ausgangspunkt und zum Inhalt der pädagogischen Arbeit.
Der Situationsansatz bezieht sich ausdrücklich auf Paolo Freires »Pädagogik der Unterdrückten«.
Lenas Lebenssituation beeinflusst ihr Bild von sich selbst ebenso wie ihr Bild von der Welt. Was sie lernt, verknüpft sie mit ihrem bereits erworbenen Wissen. Ihre Fragen und Interessen, ihre Erklärungsversuche und Deutungen beruhen auf ihren bisherigen Erfahrungen.
Was Schlüsselsituationen im Leben der Kinder sind, erkunden die Erzieherinnen und Erzieher in einem partnerschaftlichen Dialog mit den Kindern, ihren Eltern, Kolleginnen und Kollegen und anderen Experten.
Dialog oder Diskurs mit zweijährigen Kindern meint nicht eine Diskussion im Morgenkreis darüber, wie sich die Arbeitssituation der Eltern auf den Alltag der Kinder auswirkt. Gefordert ist viel mehr, dass die pädagogischen Fachkräfte den Kindern gut zuhören und auf die Signale der Kinder achten. Wie geht es dem Kind? Was braucht es? Womit beschäftigt es sich? Wofür interessiert es sich?
Die Erzieherinnen fragen bei Lenas Eltern nach, wie die Familie den Tagesablauf gestaltet. Die Eltern entscheiden selbst, wie viel sie berichten wollen, verstehen aber die Begründung der Erzieherinnen für diese Nachfrage: gemeinsam überlegen Eltern und Pädagoginnen, wie der Tagesablauf in der Kindertagesstätte gestaltet sein muss, damit es dem kleinen Mädchen gut geht.
Auch andere Kinder bleiben manchmal abends lange im Kindergarten: Die Mutter von Paul und Luise gibt Sport- und Gymnastik-Kurse; die Kursteilnehmer wollen Sport und Entspannung am liebsten direkt im Anschluss an ihre eigene Arbeitszeit. Abhängig vom Stundenplan der Mutter kommen Luise und Paul – nach Absprache mit den Erzieherinnen – zu ganz unterschiedlichen Zeiten in die Kita. Manchmal kommen sie sogar erst am Nachmittag oder am frühen Abend. Denn wenn ihre Mutter keine beruflichen Verpflichtungen hat, möchte sie gern so viel Zeit wie möglich mit ihren Kindern verbringen.
Einige Eltern haben sehr unregelmäßige Arbeitszeiten; sie haben an bestimmten Tagen lange Dienstzeiten und dafür an anderen Tagen kürzeren oder gar keinen Dienst. Songüls Mutter ist OP-Schwester in einer Klinik; Toms Mutter arbeitet in einem Forschungsprojekt an der Universität, Sonjas Eltern als Unternehmensberater. Sebastians Mutter ist in der öffentlichen Verwaltung beschäftigt und muss einmal in der Woche eine späte Bürgersprechstunde abhalten. Viktors Vater hat lange Bankschalterstunden abzudecken. Mehrere Eltern arbeiten bei der nahe gelegenen Polizeidienststelle im Streifendienst.
Die jeweilige Bezugserzieherin bespricht – wie mit Lenas Eltern – mit all diesen Eltern, was ihnen wichtig ist. Was können sie unter den jeweiligen Arbeitsbedingungen für ihre Kinder gewährleisten? Was brauchen die Kinder von der Kindertagesstätte? Die Kolleginnen im Kindergarten tragen ihre Sicht der Dinge bei. Erfahrungsberichte aus anderen Kindertageseinrichtungen mit verlängerten Öffnungszeiten, auch aus anderen Ländern, geben weitere Hinweise und werfen Fragen auf, an die vielleicht noch niemand gedacht hat. So analysieren alle Beteiligten gemeinsam die Situation.
Auf der Grundlage all dieser Sichtweisen entscheiden die Erzieherinnen, welche Ziele sie in ihrer pädagogischen Arbeit anstreben und wie sie sie erreichen wollen – mit der Absicht, die Kinder in der Entwicklung ihrer Ich-Kompetenzen, Sozialkompetenzen, Sachkompetenzen und lernmethodischen Kompetenzen zu unterstützen.
In dieser Kindertageseinrichtung war den Erzieherinnen schnell klar, dass es längst nicht ausreicht, ihren Dienstplan an die neuen langen Öffnungszeiten anzupassen: Im Haus musste ein Bereich geschaffen werden, der den Kindern, die manchmal bis in die Abendstunden anwesend sind, eine familienähnliche Atmosphäre bietet. In einer kleinen Küche können sich alle zusammen das Abendessen zubereiten. Am Esstisch finden alle gemeinsam Platz. Die Spielbereiche bieten jeder Altersgruppe Interessantes und Anregendes. Ruhezonen für die Kinder, die schon sehr müde sind, ermöglichen etwa der zweijährigen Lena, schon ein bisschen zu schlafen bis sie abgeholt wird. Selbstverständlich sind die Erzieherinnen da, die die Kinder gut kennen. Die Kinder brauchen Rituale und einen verlässlichen Tagesablauf als Gegenpol zu den wechselnden Zeiten im Familienalltag.
Noch etwas wurde den Erzieherinnen schnell klar: die fünf Erzieherinnen, die sich für den Spätdienst bis 21.00 Uhr gemeldet hatten, waren nicht ausreichend. Heute übernehmen alle wochenweise abwechselnd diesen Dienst, damit vor allem die sehr kleinen Kinder eine vertraute Bezugsperson haben.
Doch nicht nur für diese Gruppe von Kindern, sondern für alle Kinder und Erwachsenen in der Kita hat sich der Tagesablauf grundlegend verändert. Gab es früher einen klaren Spannungsbogen im Verlauf des Tages, müssen die Erzieherinnen – ganz im Sinne des Situationsansatzes – nun gewährleisten, dass alle Kinder, egal von wann bis wann sie anwesend sind, zu ihrem ganz persönlichen Recht auf Bildung und Erziehung kommen.
Daraus ergeben sich Konsequenzen sowohl für die Bildungsangebote der pädagogischen Fachkräfte als auch für die Gestaltung einer anregenden Lernumgebung. Und die Bedeutsamkeit von Partizipation und Selbstbestimmung der Kinder wird augenfällig. Denn Bildung als aktiver Prozess, als Aneignung von Welt, setzt voraus, dass jedes Kind jederzeit Wahlmöglichkeiten hat, um den eigenen Interessen und Forschungsfragen nachzugehen. Das wiederum beinhaltet, dass die pädagogischen Fachkräfte die Interessen und Bedürfnisse jedes einzelnen Kindes wahrnehmen und dass sie jedes Kind in seinen Bildungsprozessen wertschätzend begleiten.
Die Bildungsprozesse der Kinder ebenso wie die Planung und Umsetzung der pädagogischen Arbeit der Erzieherinnen werden dokumentiert und transparent gemacht. Schriftliche Dokumentationen werden ergänzt durch Fotos, Zeichnungen und Videoaufnahmen. Lehr- und Lerngeschichten ermöglichen den Kindern, sich zu erinnern: Kinder entwickeln ein Bewusstsein davon, dass sie lernen, was sie lernen und wie sie lernen. Solche Dokumentationen erleichtern regelmäßige Gespräche mit den Eltern über die Entwicklung des Kindes. Nicht zuletzt sind sie Grundlage für die Reflextion der eigenen Arbeit im Erzieherteam: Haben wir unsere Ziele erreicht? Was war erfolgreich, was ist misslungen? Ergeben sich neue Fragestellungen und neue Ziele?
Erzieherinnen im Situationsansatz erkunden die Ausgangssituation, entscheiden über die Ziele ihrer Arbeit, handeln im Sinne dieser Ziele und reflektieren, ob und wie sie ihre Ziele erreicht haben. Die Reflexion trägt dazu bei, die Qualität der Arbeit weiterzuentwickeln, und mündet auf einer höheren Ebene in eine erneute Situationsanalyse.
Um herauszufinden, was eine Schlüsselsituation für Kinder ist, sind Kinder und Erwachsene aufgefordert, ihr Wissen, ihre Sichtweisen und Gefühle beizutragen. Auch die Erzieherinnen und Erzieher haben Kinder, auch für ihre Familien ändert sich der Alltag durch längere Arbeitszeiten. Bei manchen von ihnen löst das Ansinnen, die Öffnungszeiten der Kindertageseinrichtung an die Bedürfnisse der Familien anzupassen, große Besorgnis aus.
Schlüsselsituationen entwickeln sich aus »generativen Themen« – aus Themen, die eine ganze Gesellschaft, eine ganze Generation mehr oder weniger betreffen. Im Fall von Lena, Paul und Luise, Songül, Tom, Sonja, Sebastian, Viktor und all der anderen Kinder wirken sich gleich eine ganze Reihe von generativen Themen aus: Es herrscht hohe Arbeitslosigkeit bei gleichzeitigem Wachstum des Dienstleistungssektors. Damit verbunden ist ein starker Druck auf Arbeitnehmer, im Besonderen auf Eltern, deren Entscheidung für ein Kind mit einem erhöhten Armutsrisiko einhergeht. In Deutschland gibt es insgesamt zu wenige Plätze in Tageseinrichtungen für Kinder – vor allem für Kinder unter drei Jahren. Die Öffnungszeiten der Kindertageseinrichtungen sind in der Regel nicht familienfreundlich und auf Grund von »Besitzstandswahrung« flächendeckend kaum zu erweitern.
Eltern, die ihre Kinder bis spät am Abend in die Obhut einer Kindereinrichtung geben, werden in Deutschland als »Rabeneltern« angesehen. Ob der Weg, den Lenas Eltern und die Oma eine ganze Zeit lang versucht haben, wirklich besser ist? Zumindest war die schwierige Lebenssituation der Familie niemandem aufgefallen…
Damit die Eltern ihre Kinder entspannt und mit gutem Gewissen in die Spätbetreuung geben können, brauchen sie einen guten Einblick in die Arbeit der Kita. Dokumentationen über Projekte und über die Entwicklung ihres Kindes sind für alle Eltern wichtig, bekommen aber für diese Eltern eine entscheidende Bedeutung.
Die gründliche Erkundung von Schlüsselsituationen und dahinter liegender generativer Themen ist fast zwangsläufig eine kritische politische Auseinandersetzung. Der politische Anspruch des Situationsansatzes wird ebenfalls deutlich in den übergeordneten Zielen Autonomie, Solidarität und Kompetenz. Autonomie ist nicht zu denken ohne Solidarität: Eigensinn und Gemeinsinn gehören zusammen!
Die Finanzierung von Kindertageseinrichtungen in Berlin reicht nicht aus für Lenas Kita. Der Personalschlüssel sieht nur 11 Stunden Öffnungszeiten vor. Der notwendige Zuschuss zu den Personalkosten für diese Kita kommt aus dem Gesamtetat des Trägers. Die Solidarität innerhalb des Trägers macht das möglich!
Regine Schallenberg-Diekmann
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