Christiane Perregaux stellt ein internationales Projekt vor, das das Interesse der Kinder an linguistischer Vielfalt in einer Welt anregen soll, in der Einsprachigkeit nicht die Norm ist.
Überall auf der Welt kommen junge Kinder immer häufiger mit verschiedenen Sprachen in Kontakt. Einige Kinder erleben zwei Sprachen in ihren Familien, weil die Eltern verschiedene Sprachen sprechen. Andere werden vielleicht von einer Kinderfrau betreut, die eine andere Sprache spricht als die Kinder, und wieder andere lernen zu Hause die eine Sprache und eine andere, wenn sie in die Krippe oder in den Kindergarten gehen. Einige Kinder wachsen auf und sprechen dabei von Anfang an zwei oder mehr Sprachen (sie sind simultan zweisprachig), während andere später eine zweite Sprache lernen (sie werden allmählich zweisprachig).
Im ersten Fall wird das Kind je nach dem Kontext des Gesprächs entscheiden, welche Sprache es benutzt (und wird beispielsweise begreifen, dass Papa und Mama nicht erwarten, dass das Kind auf gleiche Weise mit ihnen beiden spricht). Nach und nach werden die Sprachen als separate Gebilde im Kopf des Kindes Gestalt annehmen, auch wenn das Kind vielleicht immer noch Worte aus der einen Sprache benutzt, wenn es eigentlich gerade eine andere spricht (was allgemein als »Code Switching« bekannt ist), einfach weil diese Worte leichter auszusprechen sind oder weil sie für das Kind mehr Bedeutung haben.
Im zweiten Fall erwirbt das Kind die neue Sprache, indem es eine Verbindung des neu Gelernten zu seiner Muttersprache herstellt. Die erste Sprache muss so gut wie möglich beherrscht werden, das Kind muss die Gelegenheit gehabt haben, sie in einer Vielfalt von verschiedenen Situationen zu üben, damit es verschiedene Formen der Sprache identifizieren und erkennen kann (wie man mit Erwachsenen und mit anderen Kindern spricht, wie man eine Geschichte erzählt oder einen Kindervers rezitiert usw.). Kindertagesstätten und Grundschulen sehen die erste Sprache eines Kindes jedoch oft eher als Hindernis und nicht als Hilfe beim Erlernen der Sprache an, die das Kind umgibt. Die andere Seite der Medaille ist, dass andere Kinder in einer Welt, die ihnen keine Möglichkeit bietet, Interesse an Sprachen zu entwickeln, einsprachig aufwachsen.
Erwachendes Interesse an Sprachen
Im Lichte dieser Debatte sind in Europa und Quebec viele Studien und Projekte herausgebracht worden – mit dem Ziel, dass Kinder einer Vielfalt von Sprachen begegnen. Diese Initiativen – sie heißen »Eveil aux Langues« (Erwachendes Interesse an Sprachen) und »Education et Ouverture aux Langues à L’École« (EOLE – Unterricht und Einführung von Sprachen an Schulen) in der französischsprachigen Welt und »Begegnung mit Sprachen« in Deutschland – ermutigen Kinder schon im frühen Alter dazu, eine positive Haltung zum Erlernen von Sprachen und zu Menschen, die andere Sprachen sprechen, zu entwickeln und dieses Interesse während ihrer Schulzeit noch zu erweitern. Die Aktivitäten, die in den französischsprachigen Ländern mit Kindern zwischen vier und zwölf Jahren unternommen werden, sind dazu gedacht, die Neugier der Kinder auf Linguistik zu wecken. Denn Sprache ist ein Gegenstand, der ebenso faszinierend sein kann wie Dinosaurier.
Zu den vorgeschlagenen Aktivitäten gehört es auch, etwas über Mehrsprachigkeit herauszufinden, die in einer Gruppe von Kindern oder – bei Älteren – im Wohnblock oder im Wohngebiet existiert, und diese Mehrsprachigkeit zu nutzen.
Um das Beispiel vom Anfang dieses Artikels zu nehmen, in dem es um die verschiedenen Geräusche geht, die die Tiere in verschiedenen Ländern machen: Das ist ein Thema, mit dem junge Kinder vertraut sind, aber erst wenn sie ein bisschen älter sind, werden sie anfangen zu fragen: Sind die Tiere mehrsprachig? Warum machen sie nicht alle die gleichen Geräusche? Lautmalerei ist wie ein Übergang zwischen einem beliebigen Namen für ein Ding, der normalerweise keine Beziehung zu dem Gegenstand selbst hat (Warum nennt man einen Tisch gerade Tisch und eine Pfeife eben Pfeife?), und einer Interpretation, die darauf beruht, was man in der Realität hört. (Wir hören einen entsprechenden Klang in dem Geräusch, das ein Tier hervorbringt, und übersetzen das in die spezifischen Klänge der Sprache, um die es geht.)
Ein anderes Beispiel: Kinder, die den Ursprung von »geborgten« Worten erkunden, werden entdecken, dass das Wort chocolate (Schokolade, Chocolat, Chocolata) eine außerordentliche Reise zurückgelegt hat, um zu den Kindern zu kommen. Es startete von der Nahuatl-Sprache in Lateinamerika und reiste auf seinem Weg durch die spanischen Kolonien. Wenn man es auf diese Weise betrachtet, sind die Sprachen nicht länger geschlossene Systeme, die hinter imaginären Mauern verborgen sind. Stattdessen werden sie zu lebendigen Gebilden, die sich ständig verändern, zu Spuren der menschlichen Geschichte in Zeiten von Krieg und Frieden.
Ähnliche Entdeckungen lassen sich an Worten machen, die von anderen Sprachen in eine Sprache gelangen und umgekehrt. Nehmen wir das Beispiel »Frères Jacques«, ein Lied, das in vielen Sprachen gesungen wird. Kinder, die das Lied in einer Fremdsprache lernen, begegnen Klängen, die ihnen nicht vertraut oder völlig unbekannt sind. Das beginnt schon mit dem Namen des Bruders, Jacques, und reicht bis zu den verschiedenen Klängen, die die Glocken hervorrufen (Ding dang dong auf Englisch, Bim bam bum in Albanisch und Deutsch, Dlim dlim dlao auf Portugiesisch).
Die Kinder erleben auch andere graphische Systeme, etwa das arabische und das kyrillische Alphabet und die chinesischen Schriftzeichen. Sie sollten ermutigt werden, über ihre eigenen Vornamen nachzudenken – darüber, wie unterschiedlich diese Namen in verschiedenen Sprachen klingen. Und gibt es einen Unterschied, je nachdem, ob man Julie oder Julia, Fernando oder Fernand heißt?
Die vielen möglichen Aktivitäten – die Beispiele oben sind ja nur ein paar der vielen denkbaren Varianten – versorgen einsprachige wie zweisprachige Kinder mit Möglichkeiten, andere Sprachen im Spiel und in ernsthafter Arbeit zu entdecken. Zweisprachige und einsprachige Kinder werden so ermutigt, ihre eigenen sprachlichen Fähigkeiten zu nutzen. Sie werden spüren, dass Gleichaltrige wie Erwachsene, die sie respektieren, an der Sprache bzw. den Sprachen interessiert sind, die sie zu Hause benutzen und dass diese Sprachen in Krippen und Schulen anerkannt werden.
Mehrsprachigkeit ist heute normal
Diese Herangehensweisen beruhen sämtlich auf der Überzeugung, dass die Einsprachigkeit als Norm nicht der soziolinguistischen Realität der heutigen Gesellschaft entspricht. Die Idee, dass man von jemandem nur sagen kann, er kenne eine Sprache, wenn er sie fließend sprechen und schreiben kann (ein Zustand, der aber praktisch nicht existiert), wertet diejenigen ab, die nur teilweise Kenntnisse verschiedener Sprachen besitzen, manchmal nur in gesprochener Form, manchmal beherrschen sie auch Teile der Schriftsprache. Diese Teilfähigkeiten sollten in Familien und unter zwei- und mehrsprachigen Kindern anerkannt und weiterentwickelt werden – mit dem Ziel, diese Fähigkeiten zu erweitern und sie nicht zu ignorieren.
Die Zeiten haben sich verändert. Zweisprachigkeit wurde lange Zeit als eine Ursache für Verzögerungen in der Sprachentwicklung und bei Lernschwierigkeiten von Kindern aus Einwandererfamilien angeklagt. Jetzt erfährt sie jedoch positive Anerkennung. Forschungen zeigen, dass das Erlernen einer zweiten Sprache sich nicht zum Nachteil der ersten auswirkt, sondern dass die zweite Sprache vielmehr auf der ersten aufbaut und die erste festigt und verbessert – Voraussetzung dafür ist nur, dass die zweite Sprache sich unter geeigneten Bedingungen angeeignet wird.
Aus mehrsprachiger Perspektive über Sprachen und das Lernen von Sprachen nachzudenken bedeutet, sich auf existierende Fähigkeiten zu konzentrieren – darauf, was bereits vorhanden ist, und nicht darauf, was noch fehlt. Das ist eine wirkliche Veränderung in Denkweise und Haltung. Natürlich ermuntern uns die Aktivitäten, neue Praktiken auszuprobieren, beispielsweise Bücher in anderen Sprachen und zweisprachige Bücher auf die Regale der Bibliotheken in Kindertagesstätten und Schulen zu stellen und sie für Familien erreichbar zu machen. Genauso wichtig ist es aber auch, dass wir alle unsere Haltung zu den Sprachen überdenken.
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