Carlina Rinaldi beschreibt, wie die Kindertagesstätten im italienischem Reggio/Emilia eine einzigartige Methode für das Lernen und die Einschätzung entwickelt haben.
Das Lernen, so verstehen wir es in Reggio Emilia, ist kein linear verlaufender Prozess, bei dem die Lernenden auf dem Weg zu vorher festgelegten Ergebnissen stetig vorankommen und voraussagbare Stadien erreichen. Der Lernprozess ist vielmehr charakterisiert durch Fortschritte, Stillstand und »Rückzieher«, die in viele Richtungen verlaufen und oft zu ganz unerwarteten Ergebnissen führen. Es ist ein Prozess, in dem Theorien konstruiert, getestet und neu konstruiert werden. Diese Theorien sind unsere Interpretationsmodelle von der Welt. Es ist ein Gruppenprozess: Jedes Individuum, Kind oder jeder Erwachsener, wird auch von den Hypothesen und Theorien von anderen und von Konflikten mit anderen beeinflusst, die uns permanent zwingen, unsere Vorstellungen von der Realität zu revidieren.
In Reggio verwenden wir den Begriff »Projekt«, um diese komplexe Situation zu bezeichnen, was den ständigen Dialog zwischen Kindern und Erwachsenen einschließt. Der italienische Begriff dafür ist »progettazione«, und wir bevorzugen ihn und nicht die Vokabel »programmazione«, die sich auf festgelegte Curricula, Programme, Entwicklungsstadien usw. bezieht.
Das Wort Projekt ruft die Vorstellung von einem dynamischen Prozess hervor, von einer Reise, zu der auch die Ungewissheit und die Chancen gehören, die sich im Kontakt mit anderen Menschen immer ergeben. Die Projektarbeit entwickelt sich in viele Richtungen, ohne vorher festgelegten Fortschritt und ohne Ergebnisse, die beschlossen wurden, noch ehe die Reise begann. Das bedeutet, sensibel gegenüber den nicht vorhersehbaren Ergebnissen der Entdeckungen und Forschungen der Kinder zu sein. Die Dauer eines Projekts kann daher kurz, etwas länger oder sehr lang sein, es kann kontinuierlich verlaufen oder unterbrochen werden und es ist immer offen für Veränderungen.
Die Aufgabe des Lehrers ist es, eine Umgebung anzubieten, in der die Neugier, die Theorien und die Erkundungen der Kinder legitimiert werden und in der ihnen zugehört wird. Eine Umgebung, in der sich die Kinder entspannt und sicher fühlen; eine Umgebung, in der sie sich wohl fühlen und in der man ihnen auf vielen Ebenen zuhört.
Zur Rolle des Lehrers gehört es auch, Hypothesen über die mögliche Entwicklung des Projekts aufzustellen. Das hängt eng mit dem Zuhören und Beobachten, mit der Dokumentation und Interpretation zusammen. Auf diese Weise helfen die Lehrer und die Schulen dem Kind und der Gruppe von Kindern, zu lernen, wie sie lernen und ihre natürliche Neigung zu Beziehungen und zum konsequenten Ko-Konstruieren von Wissen weiterentwickeln.
Einige Besucher, die nach Reggio kommen, sagen, wir arbeiteten mit einem Curriculum, das sie auf verschiedene Weise beschreiben, beispielsweise als »sich ergebend« oder »integriert«. Aber wie ich schon gesagt habe: »Curriculum« ist kein Begriff, den wir verwenden. Wenn wir das tun müssten, könnten wir eher von einem »kontextualen Curriculum« sprechen, um damit die Idee zu erfassen, dass das Curriculum vom Dialog zwischen Kindern, Lehrern und Umwelt bestimmt wird und wir es uns als Weg oder als Reise ohne vorherbestimmtes Ziel vorstellen.
Unsere Entscheidung, den Begriff »progettazione« zu verwenden und nicht von »programmazione« zu sprechen, hat Auswirkungen darauf, wie wir mit Einschätzungen und Bewertungen umgehen. Die pädagogische Dokumentation spielt bei unserer Vorstellung von Bewertungen eine zentrale Rolle. Erzieher und Kinder dokumentieren ihre täglichen Aktivitäten im Laufe ihrer Projekte. Sie nutzen viele Möglichkeiten, das zu tun, beispielsweise schriftliche Notizen, Video- oder Audioaufzeichnungen, die Arbeiten der Kinder.
Das Lernen wird so zum Gegenstand des Dialogs, des Nachdenkens, der Argumentation und Interpretation – nicht nur der Erzieher, sondern auch der Kinder, Eltern und aller anderen, die sich beteiligen wollen. Das ist eine Bewertung, die als Reflexion und Erforschung verstanden wird, eine gemeinsame Erfahrung, der es mehr um verstehendes Lernen und um das Erschaffen von neuem Wissen geht als um das Messen, ob die Kinder bestimmte festgelegte Bildungsziele oder Entwicklungsnormen erreichen.
Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Kinder in Europa 09/05 lesen.
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