Raus aus der Bildungskrise
Über 25.000 Menschen protestierten am 23. September bundesweit in 29 Städten für einen Wandel in der Bildungspolitik. Wie sehr das Bildungssystem kurz vor dem Kollaps steht, erleben die Fachkräfte in Kitas, Schulen und Universitäten jeden Tag. Es fehlt an allem, und dennoch kürzt die Ampelkoalition den Etat für Bildung und Forschung. Dass trotzdem immer noch so viele Menschen den Kopf über Wasser halten, beeindruckte unsere Redakteurin Emilia Miguez. Sie hat sich am Aktionstag in Leipzig umgeschaut und war begeistert, mit wie viel Energie die Fachkräfte noch immer kämpfen.
Die ausgeklügelten Konzepte und engagierten Menschen gibt es schon längst, es braucht nur endlich einen Systemwandel. Die »Bildungswende JETZT!« verbindet zahlreiche Verbände, Träger, Vereine und engagierte Einzelpersonen. Für ein Interview haben wir das GEW-Vorstandsmitglied (zuständig für Jugendhilfe und Sozialarbeit) Doreen Siebernik und die Vorsitzende des Kita-Fachkräfteverbands Niedersachsen – Bremen e.V. Melanie Krause eingeladen. Sie verdeutlichen, wofür das Bündnis einsteht und wie es nach den Protesten weitergehen kann.
Was unterscheidet den bundesweiten Protest von den letzten Streiks der Erzieher:innen?
Melanie Krause: Bei den letzten Streiks für die Erzieher:innen handelte es sich um reine Tarifverhandlungen, da ging es nicht um die Arbeitsbedingungen als solche. Das System der Bildung muss aber neu gedacht werden und nicht mehr so, wie vor 20 bis 30 Jahren. Es ist veraltet und muss an die Bedingungen und die Entwicklung der Kinder angepasst werden. Nicht die Kinder sollen sich an das System anpassen!
Doreen Siebernik: Wir erleben, dass sich ein breites gesellschaftliches Bündnis formiert. Eltern, Organisationen, Verbände, Gewerkschaften und die Pädagog:innen wollen endlich gemeinsam, dass die Politik Bildung zum Topthema ihres politischen Handelns macht. Bundeskanzler Scholz muss jetzt endlich handeln und seine Richtlinienkompetenz nutzen, um Veränderungen zu ermöglichen. Der jetzige Protest ist eben kein Streik, sondern ein Zusammenschluss, eine kraftvolle, wachsende Bewegung.
Ein Bildungsgipfel auf Augenhöhe. Was braucht es dafür aus Ihrer Perspektive?
MK: Die Personen aus der Praxis fehlen am runden Tisch. Es wird über uns gesprochen und für uns entschieden, aber nie mit uns zusammen. Wir haben keine Lobby, daher haben sich die Kita-Fachkräfteverbände gegründet und es so geschafft, in der Politik Gehör zu finden.
DS: Die Bildungskrise umfasst alle Bereiche der Bildung, von der Kita über die Schule zur beruflichen Bildung, hin zur hochschulischen und universitären Bildung. Bildung und Bildungsprozesse müssen ganzheitlich gedacht, geplant und finanziert werden. Deshalb gehören alle Akteur:innen an einen Tisch. Wir fordern den Bundeskanzler auf, Verantwortung zu übernehmen. Bislang erleben wir die Jugend- und Bildungsminister:innen nur in ihren erlernten föderalen Denkmustern, es braucht endlich ein Umdenken.
Warum sollte die Bundesregierung nun auf die Forderungen des Bündnisses reagieren, wenn sie bisher auch nicht gehandelt hat?
MK: Das System ist mitten in der Krise und kurz vorm Kollabieren. Seit über zehn Jahren wird darauf aufmerksam gemacht, und dennoch wurde seitens der Politik nichts getan. Genügend Studien belegen es, und trotzdem wird zugesehen, wie die Bildung – und damit unsere Kinder – zugrunde gehen! Vielleicht benötigt das System Bildung ein Gutachten, das sagt, dass wir am Ende sind und ohne eine vernünftige Bildungspolitik nicht mehr weiter machen können. Ähnlich, wie es bei der Rüstungsindustrie geschah.
DS: Unsere Gesellschaft ist erschöpft. Die Krisen der zurückliegenden Jahre, wie Corona, der andauernde Krieg in Europa oder Klimaveränderungen, verunsichern die Gesellschaft, und wir erleben eine zunehmende Spaltung. Gleichzeitig wird dem Bildungssystem immer wieder bescheinigt, dass es selektiert und nicht alle Kinder und Jugendlichen gleichberechtige Bildungs- und Teilhabechancen haben.
Warum ist es wichtig, die Zivilgesellschaft in den Bildungsdiskurs einzubeziehen? Wie ist das bisher gelungen?
MK: Wer die Politik macht, wird letztlich von der Gesellschaft entschieden. Die Gesellschaft ist dafür mitverantwortlich und sollte sich dafür einsetzen. Es fehlt jetzt schon an vielen Fachkräften, und nicht jeder kann im Alter oder als Kind gut genug versorgt werden. Was soll erst passieren, wenn uns noch mehr Fachkräfte fehlen? Es ist ein gesamtgesellschaftliches Problem und lässt sich nur so lösen.
DS: Wir alle sind Teil der Zivilgesellschaft. Wir alle sind Familien. Wir alle vertrauen den Pädagog:innen das Wertvollste an – unsere Kinder. Es braucht die Bildungspartnerschaft zwischen Familien und Pädagog:innen. Es braucht das Hand-in-Hand aller Strukturebenen. Es ist unerlässlich, dass wir als Zivilgesellschaft im Interesse der Kinder und Jugendlichen zusammenhalten, ihr Wohlergehen priorisieren und ihnen beste Bildung und Teilhabe ermöglichen. Wir erleben erstmalig, dass die gesamte Bildungskette in den Fokus gerät und auch, dass über den eigenen Tellerrand hinausgeschaut wird. Nur gemeinsam wird es gelingen können, diese riesigen Herausforderungen anzupacken und zum Positiven zu wenden.
Was wäre für Sie eine zukunftsfähige Kita?
MK: Eine Kita, in der die Fachkräfte nicht mehr alles nebenbei machen müssen. In der die Leitung und stellvertretende Leitung im Tandem arbeiten und freigestellt sind. In der genügend Zeit für die Kinder, Eltern und Azubis vorhanden ist.
DS: Die Kita von morgen ist ein lebendiges Haus. Sie ist das soziale Zentrum im Kiez, ein Ort an dem sich Kinder wohlfühlen und Familien willkommen sind. Sie ist ein Familienzentrum mit Beratungsmöglichkeiten, mit Kitasozialarbeit, Treffpunkten für Eltern, Spiel- und Begegnungsflächen – und mit Kindern, die lachen und fröhlich sind. Die Kinder stehen im Mittelpunkt, und Erzieher:innen haben Zeit für jedes Kind.
Wie geht es nach dem bundesweiten Aktionstag weiter?
MK: Zunächst werden wir im Bündnis die Protestaktion vom 23. September auswerten. Sicher ist, dass es weitere Aktionen dazu geben soll. In welcher Form, ob als erneuter Protest oder einzelne Veranstaltungsreihen in den Bundesländern, das entscheidet sich noch. Wir müssen den Aufwind, der uns nun begleitet, nut- zen und unser Bündnis breit aufstellen, um den Druck auf die Politik zu erhöhen.
DS: Zunächst einmal freuen wir uns, dass der Funke übergesprungen ist. Es gilt jetzt, mit vielfältigen Aktivitäten weiterzumachen. Im Herbst beginnt die große Tarifrunde der Länder, und natürlich werden wir diese auch nutzen, um auf die wichtigen Forderungen aufmerksam zu machen.
Mehr Infos
https://bildungswende-jetzt.de/
Doreen Siebernik ist Erzieherin und Gewerkschafterin. Seit 2021 gehört sie dem geschäftsführenden Vorstand der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) an. Zuvor leitete sie zehn Jahre den Landesverband Berlin. Als Pädagogin hat sie fast 20 Jahre an Berliner Ganztagsschulen gearbeitet und war auch in der Fortbildung tätig.
Kontakt
Melanie Krause gründete den und engagiert sich beim Kita-Fachkräfteverband Niedersachsen – Bremen e.V. Sie selbst ist dreifache Mama, gelernte Erzieherin und Kitaleitung im Landkreis Leer.
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Bilder: Emilia Miguez
Den vollständigen Beitrag und weitere Artikel zum Thema können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 09-10/2023 lesen.