Von Blockaden und Hilfen
Wenn wir beginnen, uns als Teil ihrer Umgebung zu verstehen, lernen wir auch zu beobachten, wie unterschiedlich Kinder auf Signale reagieren, die wir bewusst oder unbewusst aussenden. Ein Beitrag vom Hilfreich-Sein und vom Verhindern von der Montessori-Pädagogin, Fortbildungsreferentin und Mutter von vier Kindern Dörte Westphal.
Magda, 2 Jahre, erklimmt ein Podest. Dicht an der Kante will sie sich hinsetzen. Eine Erzieherin deutet die Situation als brenzlig für das Kind und reagiert mit einem spontanen »Oh«. Das Kind gerät kurz aus der Balance und ruckelt sich erneut »auf Kante« zurecht – stets auf der Suche nach Blickkontakt zur Rückversicherung, dass es in Ordnung ist, was es tut. Malik, 3 Jahre, will am Rande eines Bachlaufes von einem großen Felsstein zum nächsten springen. Eine Begleitperson ruft »Hey, pass auf!« Als der Junge sich bereits umzuschauen scheint, wie er wieder sicheren Boden unter die Füße bekommt, reicht ihm eine mit wackeligen Steinen vertrautere Fachkraft die Hand. Magda und Malik hatten Glück. Sie konnten ihren ursprünglichen Plan nach einer kurzen Irritation fortsetzen. Das ist nicht immer der Fall.
Innere Welt und äußere Umgebung
Die Basis für eine hilfreiche Arbeit mit dem Kind entsteht aus der Beziehung zwischen Kind und Fachkraft, und diese wiederum basiert auf deren Verständnis für die Bedürfnisse des Kindes. Eine solche ganzheitliche Perspektive berücksichtigt die innere Welt des Kindes ebenso wie seine äußere Umgebung. Die innere Welt eines Kindes umfasst, einfach gesagt, seine Gefühle, Gedanken, Bedürfnisse und Wünsche. Es ist unsere Aufgabe, das Bedürfnis des Kindes, auf der Kante zu sitzen oder von Felsstein zu Felsstein zu springen, wahrzunehmen und zu unterstützen. Wobei unterstützen auch innehalten bedeuten kann oder selbstverständlich auch selbst auf dem Sprung sein, um das Kind vor einer eventuellen Gefahr zu schützen und den Raum gemäß seiner Entwicklungsbedürfnisse sicher zu gestalten. Tendenziell zu häufig sehen wir als Erziehende unsere Aufgabe darin, stets im Tun zu sein – mit dem Kind, am Kind oder für das Kind. Doch das ist nicht immer das Beste für das Kind. Deshalb sollten wir uns beim Umgang mit Kindern immer bewusst machen, dass wir ein Teil ihrer äußeren Um- gebung sind und ihr Tun durch unsere Interaktionen – und sei es nur das kurze »Oh«, was Magda für einen Moment aus ihrer inneren und äußeren Balance bringt oder Maliks kurzes Straucheln – beeinflussen. Selbstreflexion sollte ein unverzichtbarer Teil unserer pädagogischen Arbeit sein, weil unsere Interaktionen, die hilfreichen und in besonderem Maße die verhindernden, durch unsere eigene, von Vorlieben und Verunsicherungen geprägten Erfahrungswelt gespeist sind.
Auf eigene Weise
Mal leise und mal laut, mal bewusst und mal unbewusst fließen unsere Erfahrungen in das Zusammensein mit dem Kind ein. Hörbares Luftanhalten kann es verunsichern, ein plötzlicher Ausruf erschrecken. Ein Anfeuern kann es beflügeln oder bewirken, dass es sich in sich zurückzieht. Mit unserem Handeln wollen wir hilfreich sein, das Kind schützen und stärken und vergessen dabei leicht, dass jedes Kind aus sich heraus Erfahrungen sammeln möchte und sollte. Auf die eigene Weise. Jedes Hinauswachsen und auch jedes Nichtgelingen, das aus einer eigenen Handlung heraus entsteht, stärkt seine inneren Wachstumskräfte, fördert sein Gefühl für die eigenen Grenzen und entzieht möglichen Äng- sten den Nährboden. Es braucht tatsächlich nicht mehr als ein besorgtes Luftholen oder einen »Pass auf«-Ruf, um beim Kind als Signal anzukommen, etwas lieber bleiben zu lassen, weil sonst etwas passieren oder auch einfach nur, weil der Erwachsene sonst Angst bekommen könnte. Ich glaube, dass Kinder tatsächlich häufig Dinge nicht oder nicht auf eigene Weise tun, weil sie uns vor unseren eigenen Verunsicherungen schützen möchten.
Eine Frage der Geschichte
Tatsächlich scheint das Tun von Kindern in uns häufiger angstbesetzte Reaktionen auszulösen, als wir das aus Begegnungen mit Erwachsenen kennen: Angst vor Höhe, vor Enge, vor Dunkelheit oder vor bestimmten Tieren. Die Kinder bringen uns in Kontakt mit Prägungen wie dem Gefühl für Lärm, der Bedeutung von Ordnung, dem Einhalten von Vorgaben und überhaupt mit all unseren Wertevorstellungen, von denen sie nichts wissen und mit denen wir sie hilfreich oder verhindernd beeinflussen. Eine meiner Ängste ist Enge, und ich habe mich oft dabei beobachtet, wie ich Kinder sofort aus Decken herausgezogen habe, in die sie sich im Spiel eingewickelt haben. Meine Angst war, ein Kind könnte ein anderes ersticken oder ein Kind könnte ähnlich empfinde wie ich. Tatsächlich aber war keines jemals in Gefahr. Die Kinder hatten einfach nur Spaß und fühlten sich durch mein Eingreifen gestört. Manchmal spielten sie ihr Spiel dann weiter, manchmal aber hinterließ ich bei ihnen einen solch starken Eindruck, dass sie zu einem anderen Spiel wechsel- ten. Ich habe auch beobachtet – bei meinen eigenen Kindern oder den Kindern im Bekanntenkreis –, dass sie Ängste ihrer Bezugspersonen zu ihren eigenen machen. Ich vermute, dass das gerade bei Phobien wie Angst oder Ekel vor Spinnen oder anderen kleinen Tieren sogar ziemlich häufig der Fall ist.
Dörte Westphal ist Achtsamkeitslehrerin und Montessori- Pädagogin. Sie lernte u.a. bei Emmi Piklers Tochter Anna Tardosz und Mauricio und Rebeca Wild. Die Mutter von vier Kindern arbeitet als Fortbildnerin – auch im Bereich der Achtsamkeitspraxis. Im November 2023 beginnt ihre einjährige Online-Fortbildung »Ein guter Start ins Leben – Achtsamkeit mit Säuglingen und Kleinkindern«. Infos dazu gibt es auf www.arbor-seminare.de.
Kontakt
www.doertewestphal.de
Bilder: 1) Dörte Westphal 2) Sandra Lukas 3) Jutta Gruber
Den vollständigen Beitrag und weitere Artikel zum Thema können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 09-10/2023 lesen.