Nichtrepressive Erziehung von Anfang an
Als Almut Mezgers Tochter geboren wurde, feierten die Kinderläden der antiautoritären Student:innenbewegung bereits zehnjähriges Bestehen. Weil es jedoch noch keine in diesem Sinne akzeptablen Krippen gab, gründete die Gymnasiallehrerin für Englisch, Geschichte und Politik gemeinsam mit weiteren Eltern von Kleinstkindern, die arbeiten gehen wollten oder mussten, selber eine.
Als meine Tochter Nicola 1978 zur Welt kam, gab es in Darmstadt bereits Kinderläden, aber noch keine Krippe, in der bereits die Jüngsten selbstreguliert hätten aufwachsen können. Deshalb gründete ich gemeinsam mit weiteren Eltern selber eine. Angelehnt an die Kinderläden nannten wir sie Babyladen.
Selbst anfangen
Wir starteten mit insgesamt elf Babys, von denen die jüngsten sechs Wochen alt waren und zunächst nur für etwa zwei Stunden täglich in den Babyladen kamen. Die Kinder wurden lange eingewöhnt. Mindestens vier Wochen und in jedem Fall so lange, wie sie eben brauchten. Es gab zwei Gruppen mit jeweils einer festen Betreuerin und einer Mutter oder einem Vater, sodass keine:r sich um mehr als drei Babys kümmern musste. Die Räume renovierten und richteten wir selbst ein. Wir kochten, betreuten, putzten und trafen uns einmal wöchentlich zum Elternabend, damit auch wir Eltern möglichst viel Austausch miteinander hatten. Besonders in Erinnerung geblieben ist mir die meist ruhige Atmosphäre im Babyladen. Jedes Kind erhielt sofort Zuwendung, wenn es sie brauchte.
Die Babys nahmen sehr früh, oft schon mit zwei oder drei Monaten, Kontakt zueinander auf, lachten oder patschten sich an, leckten aneinander und probierten etwas später auch ihre aggressiven Fähigkeiten aus, z.B. mit dem Experiment An-den-Haaren-Ziehen-löst-beim-anderen-Kind-Geschrei-aus. Später wechselten die älteren Kinder in eine der »Kinderwerkstätten« des Vereins für nichtrepressive Erziehung. Unter den ersten, die vom Babyladen in die Kinderwerkstatt wechselten, war auch meine Tochter. Weil sie und die anderen vier Kinder das Leben in der Gruppe schon gewohnt waren, mussten sie kaum eingewöhnt werden. Meine Tochter sagte mir, als ich sie am ersten Tag abholen wollte, »ich schlafe heute bei Ulrike«, einem Mädchen, das sie an diesem Tag erst kennengelernt hatte. Die Kinder schliefen oft beieinander, sie kannten das Zuhause und die Eltern der anderen. Diese Vertrautheit war für die Kinder gerade in schwierigen Zeiten – z.B. bei Trennung der Eltern – oft eine große Stütze.
Klare Strukturen
Es gab einen relativ klaren Ablauf des Tages und der Woche: Frühstück, Mittagessen, einmal in der Woche Sport in einer Schulturnhalle. Die Räume waren rumpelig, aber großzügig mit vielen Matratzen ausgestattet und einem großen Netz, in dem mehrere Kinder schaukeln konnten, einer großen Plexiglasröhre zum Durchrutschen, einer Nasszelle zum Plätschern und sich Säubern, wenn man vom Spielen dreckig war. Auch in der Kinderwerkstatt beteiligten sich die Eltern beim Betreuen, Kochen und Putzen, bei den Elternabenden und den vielen Diensten und Arbeitseinsätzen zur Instandhaltung der Räume. Es gab eine feste Betreuerin ohne Fachausbildung, aber mit einem großen Herzen und einem weichen Körper, meistens eine Praktikantin oder einen Praktikanten, die ihr Anerkennungsjahr absolvierten und in der Regel zwei Elternbetreuer:innen.
Die Kinder wurden zum Spielen, zum Basteln, Singen oder Erzählen eingeladen, aber wenn eins keine Lust hatte, war das okay. Einige Aktivitäten wären nach heutigen Vorstellungen grenzwertig. Zum Beispiel liebte unsere feste Betreuerin den Aufenthalt im Hüttendorf im Wald während des Protests gegen die Startbahn West. So oft wie möglich fuhr sie dorthin. Es wurden dann viele Kinder jeweils in ein Auto geladen, von Kindersitzen keine Spur. Auch dass sich hin und wieder nicht nur die Kinder, sondern auch die Erwachsenen nackt auszogen, um sich z.B. über und über mit Fingerfarbe zu beschmieren, würde heute auf Ablehnung stoßen – auch wenn es allen sehr viel Spaß machte. Schön waren die Feste. Die Geburtstage der Kinder wurden zusammen gefeiert, und wenn die Eltern am Spätnachmittag dazu- kamen, ging die Feierei oft bis weit in den Abend. Es wurde getanzt, getrunken, leider auch geraucht – was ein häufiger Streitpunkt war. Wenn die Kinder müde wurden, legten sie sich auf die Matratzen auf der Hochebene und schliefen in dem ganzen Trubel.
Eindrücke von den Anfängen des Vereins für nichtrepressive Erziehung bieten die Website www.kinderwerkstadt.de/verein/geschichte.html und die 2012 erschienene Publikation »Wir verändern die Welt!« Die Kinderladenbewegung in Darmstadt nach 1968 von Kerstin Hillringhaus mit Interviews mit Zeitzeug:innen. Danke an den Justus von Liebig Verlag für die Erlaubnis, Bildmaterial aus Frau Hillringhaus’ Buch zu verwenden.
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Diesen Beitrag können Sie vollständig neben weiteren interessanten Beiträgen in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 03-04/2023 lesen.