Das Spiel vom Geschichtenerzählen
Im Reggio-inspirierten Familienzentrum St. Otger nahe der niederländischen Grenze gibt es seit kurzem eine Werkstatt für Fantasie. Hier spielen Kinder – in der Tradition des italienischen Kinderbuchautors Gianni Rodari – das Spiel des Geschichtenerzählens. Aus dem Staunen über die Dialoge, Zeichnungen und Theateraufführungen, welche dort ihren Anfang nehmen, kommen die Leitung Marion Röttgers und ihr Team kaum hinaus.
Vor etwa genau fünf Jahren begannen wir, unseren Kindergarten zum Reggio-inspirierten Familienzentrum umzugestalten. Unsere Vorstellungen von Pädagogik hatten wir bereits zuvor umgekrempelt, denn in festen Gruppen zu arbeiten, konnten wir uns schon lange nicht mehr vorstellen. In den Prozess, an dessen Ende die offene Arbeit in Werkstätten stand, begaben wir uns mit der Fachberaterin und Anerkennungsbeauftragten für Kitas, die Reggio-inspiriert arbeiten möchten, Marion Tielemann. Sie begleitete uns dabei, die Vorzüge des Raums als »dritter Erzieher« kennenzulernen und Kinder als Ko-Konstrukteur:innen zu verstehen. Immer wieder hinterfragten wir unsere Rolle, lernten, gemeinsam zu lernen und wurden mit der Zeit selbst zu Expert:innen für Werkstätten, in denen Kinder allein oder zusammen mit anderen Kindern eigenverantwortlich aktiv sein können.
Mit hoher Motivation und viel Verantwortungsgefühl setzten wir unsere besonderen Talente sowohl in jeweils eigenen Bereichen als auch mit Blick für die gesamte Kita ein. Offenheit, Neugierde und Begeisterungsfähigkeit hielten den Prozess in Gang und inspirierten uns, auch dann dranzubleiben, wenn es Sinn machte, einen Plan wieder zu verwerfen und einen neuen auszuprobieren. Darauf, was wir heute alles täglich in unseren Werkstätten erleben und dass wir es in nur fünf Jahren unter die 25 Nominierten für den Kita-Preis 2023 schaffen könnten, wären wir im Traum nicht gekommen.
Was wäre, wenn der Regenbogen schwimmen könnte?
Mila (5 Jahre) erzählt und malt dazu: Der Regenbogen ist nicht mehr am Himmel, sondern im Wasser. Damit er nicht untertaucht, braucht er einen Schwimmring und Badesachen. Abtrocknen muss er sich mit einem Handtuch, damit er nicht ganz friert.
Was wäre, wenn …?
Viele wunderbare und großartige Geschichten haben in unserer Fantasiewerkstatt inzwischen ihren Anfang genommen. Der kleine Raum ist gemütlich eingerichtet. Eine Couch, ein Sitzsack und mehrere Sitzkissen laden zum Bleiben, Träumen, Erzählen, Fragen und eben auch zum Fantasieren ein. In den Regalen finden die Kinder Bilderbücher, Märchenbücher, Sachbücher und anderen Medien.
Gastgeberin der Fantasiewerkstatt ist unser Teammitglied Maria Heming. Sie liebt Geschichten wie die von Pippi Langstrumpf und begeistert die Kinder nicht nur beim Vorlesen der von ihnen ausgewählten Büchern, sondern auch mit erfundenen Geschichten. Manchmal ermuntert sie die Kinder, selbst Geschichten zu erfinden, und gibt ihnen dafür auch schon mal einen Impuls nach der »fantastischen Hypothese« von Gianni Rodari: Eine Frage, in der man ein Subjekt und ein Prädikat zusammenbringt, die üblicherweise nicht zusammengedacht werden. Klingt kompliziert, ist es aber nicht. Eins seiner Beispiele ist »Reggio Emilia« als Subjekt und »fliegen« als Prädikat, die man in der Frage »Was wäre, wenn …?« zusammenbringt: »Was wäre, wenn Reggio Emilia fliegen könnte?« (Vgl. Grammatik der Phantasie. Die Kunst, Geschichten zu erfinden. Ditzingen, S. 33ff.) Weitere Fragen, die wir den Kindern stellten, waren »Was wäre, wenn ein Fußball Beine hätte?« oder »Was wäre, wenn meine Hose müde wäre?« Wir haben uns gefühlt schon endlos viele solcher Fragen ausgedacht und immer wieder fallen uns neue ein und immer wieder überraschen uns die Kinder mit den Geschichten, die sie dazu erzählen.
Oft malen die Kinder dazu. Die Konturen ihrer »Was wäre, wenn …?«-Geschichten zeichneten sie mit einem schwarzen Stift und malten das Bild dann mit ihren »Zauberstiften« aus. So nennen sie die Farbstifte, die man mit Wasser vermalen kann. Manchmal, wenn sie unsicher sind, wie sie die Dinge malen könnten, holen sie sich passendes Material aus einer anderen Werkstatt, schauen im Außengelände oder in Büchern nach den gesuchten Objekten. Nachdem wir das erste Buch mit über vierzig wahrhaft wundervollen »Was wäre, wenn …?«-Geschichten veröffentlicht hatten, war die Freude riesig. Man konnte bei den Kindern, den Familien, dem Träger und den vielen anderen, die das Buch anschauten, sehen, wie die Geschichten Freude in ihre Gesichter und Herzen zauberten. Wir erlebten die Kinder, wie sie sich die Geschichten immer und immer wieder mit leuchtenden Augen erzählten, und von den Eltern erfuhren wir von lustigen Vorlesesituationen zu Hause und fantastischen Gesprächen mit ihren Kindern.
Wonach schmeckst du?
Es dauerte nicht lange und das Fantasieren und Philosophieren ging uns, im wahrsten Sinne des Wortes, in Leib und Blut über. Ideen für Geschichten können überall entstehen – sogar beim Frühstücken in unserem Bistro! Es geschah eines Morgens, als sich ein paar Kinder mit einem »Otti« – so nennen wir unsere pädagogischen Fachkräfte – über das Essen oder genau gesagt über den Geschmack des Essens unterhielten und der Otti die Frage stellte: »Wonach schmecken wir eigentlich?« Einige Kinder probierten ihre Finger oder die Hand, leckten daran und stellten fest: »Ich schmecke nach Nutella!«, »Ich nach Nudeln!«, »Ich nach Pflaumen!« Das war spannend und schon war ein neues und einzigartiges Fantasieprojekt geboren. Einfach indem wir eine offene und weckende Frage stellten, die die Kinder neugierig machte und deren kreative, fantastische und magische Antworten und Erzählungen wir ernst nahmen. Schnell war klar, wonach sie schmecken und dass offensichtlich jede:r anders schmeckt. Wenn sie erzählten, wonach sie schmecken, klang es für uns, als schmeckten sie wirklich so. Imagination und Realität vermischten sich. Erwachsener können das oft nicht mehr so gut wie Kinder. Schade eigentlich.
Ein Geschmack von Magie
In der Entwicklungspsychologie nach Jean Piaget durchleben alle Kinder im Alter von drei bis sechs Jahren eine sogenannte magische Phase. Charakteristisch für diese Phase ist, dass das Kind keine Grenze zwischen Realität und Fantasie zieht. Es nimmt die Realität wahr und ergänzt sie durch fiktive Ideen, Gedanken und Konstrukte. In seiner Gedankenwelt ist alles möglich und mit einer ganz eigenen »magischen Logik« durchdacht. Gleichzeitig hat das Kind das Gefühl, dass es mit seinen Handlungen die Welt um sich herum beeinflussen kann und sein Verhalten die Ursache für das ist, was um es herum passiert.
Verständnislücken innerhalb realer Abläufe und Zusammenhänge füllt es auf diese Art mit eigenen Erklärungsansätzen und schafft dabei seine ganz eigene Realität. Diesen kreativen Prozessen sollten wir Raum geben, denn sie wecken im Kind das Gefühl der Selbstwirksamkeit, das wir an Pippi Langstrumpf so sehr lieben: Ich mache mir die Welt, wie sie mir gefällt. Später, im Erwachsenenleben, kann diese Erfahrung den Ausschlag geben, ob uns auf den ersten Blick unmöglich zu lösende Aufgaben in Schockstarre versetzen oder unsere Synapsen anfeuern und unsere Kreativität entfachen. Deshalb ist es unendlich wertvoll, Kinder ernst zu nehmen, ihnen zu glauben, ihren Gedanken ehrlich interessiert zu folgen und sie z.B. in Fotobüchern zu dokumentieren.
Marion Röttgers leitet das Familienzentrum St. Otger nahe der niederländischen Grenze. Mit ihrer Mitarbeiterin und Gastgeberin der Fantasiewerkstatt Maria Heming teilt sie die Leidenschaft für die Reggio-Pädagogik. Mit ihrem Team von insgesamt 15 großen Menschen verwandelte sie ihren Kindergarten in ein Familienzentrum mit unermesslichem Raum zum Fantasieren, Philosophieren und Träumen.
Kontakt
Web: www.familienzentrum-st-otger.info
Den vollständigen Beitrag und weitere Artikel zum Thema können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 11-12/2022 lesen.