Translanguaging in der Kita
Wenn Kinder Wörter aus verschiedenen Sprachen mischen, klingt das häufig wie Wortsalat und wird nicht selten auch als solcher abgewertet. Theorie und Praxis des Translanguaging zeigt jedoch, dass Mehrsprachigkeit keine Hürde zum reinen Deutsch darstellt, sondern eine enorme Hirnleistung. In einer Kita des Trägers Kinderwelt Hamburg beobachtet die Fachberaterin Lena Spiekermann vom Paritätischen Wohlfahrtsverband Hamburg, wie Mehrsprachigkeit und Identitätsbildung zusammenhängen.
Ein Mädchen der Kita Kinderwelt@DESY kommt selbstbewusst auf mich zu: »Wie heißt du?«, fragt sie mich. »Ich heiße Lena. Wir beide haben uns schon mal gesehen. Du warst neu in der Kita und ich war eure Sprachfachkraft.« »Ich weiß nicht«, antwortet das Mädchen. Nach einer kurzen Pause fragt sie: »Weißt du, wie ich heiße?« Ich entgegne, dass ihr Name Mariana sei und dass ich mich erinnere, dass sie gar kein Deutsch konnte, als sie in die Kita kam. Nun könne sie ganz viel. Mariana nickt: »Das sagen alle. Ich kann aber auch Spanisch noch.« Und direkt im Anschluss erzählt sie: »Meine Mama heißt Juanita, aber das sagen immer alle falsch. Sie sagen Ju … und nicht Hu …« Ich wiederhole den Namen in der Lautsprache und sage »Huanita«. »Ja, du hast das richtig gemacht«, sagt Mariana.
Es ist nicht selten, dass man von Kindern in Kindertagesstätten belustigt angeguckt wird, wenn man ein Wort in einer für einen selbst fremden Sprache wiederholt. Kinder genießen es, wenn sie etwas besser können als Erwachsene. Sie nutzen ihren Wortschatz intuitiv nach Bedarf und mischen ihre Sprachen nach einem für sie schlüssigen System. Auf diese Art entsteht in ihren Köpfen ein Wörterbuch, in dem sie zu ihrem muttersprachlichen Wortschatz auch noch eine Übersetzung hinzufügen. Ohne die sprachlichen Fähigkeiten des Gegenübers zu bewerten, entscheiden sie sich für die Formulierung, die ihrem Gegenüber potenziell am besten erklärt, was ausgedrückt werden soll, und oft bringt sie genau das auch am schnellsten ans Ziel.
Willkommen sein
Manchmal schickt uns die Mehrsprachigkeit der Kinder aber auch ins Aus. Nur »Wortsalat« zu hören, fühlt sich für uns oft unangenehm an, denn wir sind es gewohnt, die rhetorische Oberhand zu haben. Allerdings können wir hier ein wunderbares Signal senden: »Ich verstehe dich nicht, aber ich möchte von dir lernen.« Auf diese Art lernen wir nicht nur dazu, die Kinder erfahren auch, dass ihre sprachliche Heimat willkommen geheißen wird. Eine Bestätigung meiner Beobachtungen im Kita-Alltag fand ich bei Ofelia Garcia, einer amerikanischen Professorin für Bildungssysteme in Großstädten. Garcia, die kubanische Wurzeln hat, prägte den Begriff »Translanguaging« geprägt und empfiehlt, Mehrsprachigkeit nicht nur zu akzeptieren, sondern bewusst einzusetzen, um fließende Kommunikation zwischen allen Sprachen – und damit zwischen allen Menschen in der Kita – zu ermöglichen. Statt allzu schnell an Förderungen und Therapien zu denken, sollen wir die sprachlichen Fähigkeiten als Ganzes betrachten und danach entscheiden, was dem Kind helfen könnte, alle seine Sprachen bestmöglich zu verwenden. Wenn Kinder ermutigt werden, sich mitzuteilen, so wie sie es eben können, erleben sie, dass Mehrsprachigkeit ein Teil ihrer Identität ist, auf die sie stolz sein dürfen, und erfahren dadurch Teilhabe und Zugehörigkeit.
Gelebte Mehrsprachigkeit
Kurze Zeit später beobachte ich Mariana beim Spiel mit einem Kind im Planschbecken. Die Kinder laufen in kleinen Schritten im Kreis durch das Wasser. Mariana sagt: »El agua no es azul, es café« (Das Wasser ist nicht blau, es ist kaffeebraun). Beide Kinder lachen. Ob das andere Kind Spanisch versteht oder gar selbst spricht, weiß ich nicht.
Mariana ist ein gutes Beispiel für ein Kind, bei dem Translanguaging als Werkzeug funktioniert. Sie war vier Jahre alt, als sie vor eineinhalb Jahren mit ihrer Familie von Ecuador nach Deutschland gezogen war und in die Kita kam. Niemand in der Familie sprach Deutsch. Die Eltern nutzten Englisch, um mit dem pädagogischen Team zu sprechen. Aus beruflichen Gründen musste die Eingewöhnung innerhalb weniger Tage abgeschlossen werden. Mariana war schnell auf sich allein gestellt. Damit sie sich in der Einrichtung wohlfühlte, machte ihre deutsche Bezugserzieherin sie darauf aufmerksam, welche Kolleginnen und Kinder Spanisch sprechen konnten. Das Team bemühte sich, Mariana an die Kita und die Menschen darin zu gewöhnen. Ihre Interessen, damals z.B. Musik und Tanz, wurden durch entsprechende Angebote einbezogen. Man vertraute darauf, dass Mariana von sich aus an Gesprächen teilnehmen würde, sobald sie sich zugehörig fühlte. Dass dies gelungen ist, zeigt die eingangs beschriebene Beobachtung. Sie beleuchtet aber auch die besondere Bedeutung, die unsere Namen für die Identität und die Identitätsentwicklung haben.
Namen dienen nur auf den ersten Blick dazu, uns auseinanderhalten zu können. Oft beinhalten sie auch Erinnerungen und Wünsche von Eltern an ihr Kind. Letztlich aber prägen Menschen die Bedeutung ihres Namens selbst, egal woher sie oder ihr Name stammen. Dennoch gibt es Namen, die in mir allein durch ihren Klang Bilder erzeugen und bei denen ich mich bewusst erinnern muss, dass ich die Person dazu nicht kenne. Der Name Mateo stand für mich beispielsweise lange für dunkelhaarige Jungen mit stets sonnigem Gemüt. Erst einige Mateos später hat sich diese gedankliche Vorstellung aufgelöst.
Lese- und Netztipps
Im Jahr 2019 veröffentlichten die Professorinnen Elke Montanari und Julie Argyro Panagiotopoulou geballtes Wissen zu mehrsprachigem Aufwachsen in Deutschland in dem Buch Mehrsprachigkeit und Bildung in Kitas und Grundschulen. Eine Botschaft wird besonders schnell deutlich; so, wie wir sprachliche Bildung und Sprachförderung lange angegangen sind, geht es nicht mehr. Glücklicherweise finden sich neben gut verständlichen fachlichen Texten auch zahlreiche Dialoge und Beispiele aus der Praxis, die dem Lesenden direkt Hinweise für ein »Wie es denn gehen könnte« anbieten. Weniger umfangreich, aber ähnlich einschlägig, ist die 2016 bei der WiFF erschienene Publikation Mehrsprachigkeit in der Kindheit, ebenfalls von Frau Panagiotopoulou, die zum kostenfreien Download zur Verfügung steht. Weniger als sechs Minuten lang ist ihr praxisnahes Plädoyer Prof. Dr. Argyro Panagiotopoulou über Mehrsprachigkeit in der Kita (der direkte Link ist www.youtube.com/watch?v=B9pRImlLxu4 /21.08.2022), warum wir in allen Kindern zukünftige Mehrsprachige sehen sollten.
Lena Spiekermann ist Fachberaterin beim Paritätischen Wohlfahrtsverband Hamburg, Erzieherin und Lese- und Literaturpädagogin. Sie betreut Kitas im Hamburger Landesprogramm »Kita-Plus«, u.a. bei alltagsintegrierter sprachlicher Bildung und Inklusion und leitet das Vielfaltsprojekt »Büch(er)leben Haus«.
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Den vollständigen Beitrag und weitere Artikel zum Thema können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 09-10/2022 lesen.