Selbststeuerung als Merkmal von Lebendigkeit
Bildungsprogramme für U3-Kinder schießen wie Pilze aus dem Boden – obwohl wir wissen, dass Kinder die Grundkompetenzen in sämtlichen Bildungsbereichen Insbesondere im freien Spiel erwerben. Doch wie geht freies Spiel und warum genau ist es für die gesunde
Entwicklung unserer Kinder notwendig? Welche Umgebung lädt zum freien Spiel ein und welche pädagogische Haltung erfordert sie? Die Pädagogin und Journalistin Elisabeth C. Gründler kennt beide Rollen – die der »Wissensvermittlerin« und die der »Umgebungsvorbereiterin«.
Lea ist auf dem Weg zum höchsten Punkt. Der Tunnel in der Mitte des Spielbereiches, dessen Seitenwände durch Stäbe gebildet werden, dient ihr auch als Podest – und dort will sie hinauf. Das 17 Monate alte Mädchen hat seinen Körper in die Waagerechte gebracht, parallel zum Boden, in etwa 35 Zentimeter Höhe. Mit Becken und Beinen arbeitet Lea sich nach oben. Mit Händen und Armen sowie mit dem Kopf tariert sie ihr Gleichgewicht aus. Leas Gesicht ist entspannt. Ein Zeichen dafür, dass ihr dieses Überwinden der Schwerkraft bereits vertraut ist; vermutlich hat sie diese Übung schon mehrmals wiederholt. Das Tunnel-Podest ist eine Einladung an das Kind, großmotorisch aktiv zu werden, wann immer es mag. Niemand animiert es, fordert es auf oder bietet ihm Hilfestellung an. Jederzeit kann Lea aus eigener Initiative ihre Kräfte erproben.
Lea trifft Entscheidungen
Augenblicke später hat Lea ihr Ziel erreicht und ihren Schwerpunkt auf die »obere Etage« verlagert. Das Mädchen ist oben angekommen. Es hebt den Kopf und schiebt sich mit den Beinen weiter auf das Podest. Dann richtet sich Lea auf, gestützt auf Hände und Knie. Gleichzeitig blickt sie zu Boden. Dort ist nicht für uns, aber für Lea sichtbar ein weiteres Kind aktiv. Auch wenn die Kinder in ihre jeweils eigenen Aktivitäten vertieft sind, scheinen sie sich doch gegenseitig wahrzunehmen. Während sich Lea, nach dem anderen Kind schauend, vorbeugt, achtet sie darauf, ihren Schwerpunkt so zu belassen, dass sie oben bleibt. Offenbar hat sie Erfahrung damit, in dieser erhöhten Position ihre Balance zu halten und gleichzeitig die Aufmerksamkeit auf etwas anderes zu richten. Ein Hinweis darauf, dass das durch vielfache Wiederholung bereits zur Routine geworden ist, und dass ein Höhenunterschied, wie das Podest es bietet, für das Kleinkind keine Gefahr darstellt.
Das, was Lea sieht, fasziniert sie offenbar so sehr, dass sie sich nun hinsetzt. Im Fersensitz ist sie weiterhin entspannt. Das signalisieren ihre geöffneten Hände, die leicht auf den Oberschenkeln aufliegen. Leas Entspannung spiegelt sich auch im Gesicht. Ihre Aufmerksamkeit richtet sich ganz und gar darauf, was »eine Etage tiefer« geschieht. Lea sitzt in einer konzentrierten und gleichzeitig entspannten Haltung, die sich mancher Erwachsene durch Yoga oder Meditation mühsam erarbeiten müsste. Lea ist von großmotorischer Bewegung zu konzentrierter Beobachtung gewechselt – zwei Möglichkeiten von Aktivität, die Körper und Geist sehr unterschiedlich fordern. Lea selbst hat sich für diesen Wechsel entschieden. Vielleicht ruht sie sich damit auch von der Anstrengung aus, das Podest zu erklimmen, und hält inne, bevor sie sich weiteren Erkundungen zuwendet.
Elisabeth C. Gründler ist ausgebildete Pädagogin und hat mehrere Jahrzehnte lang Kinder und Jugendliche aller Altersstufen sowie Erwachsene in ihren Lernprozessen begleitet. Sie arbeitet außerdem als Journalistin und ist Autorin mehrerer Bücher – ohne das freie Spiel wäre sie so weit nicht gekommen.
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Den vollständigen Beitrag und weitere Artikel zum Thema können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 09-10/2021 lesen.