Zwischen Rahmung und Freiheit
In der Atelierarbeit kommen die 100 Sprachen der Kinder besonders deutlich zum Vorschein. Die innere Gefühlswelt nach außen tragen, sich mit der Umwelt auseinandersetzen, Spuren hinterlassen. Elementare Bedürfnisse eines jeden Kindes und auch eines jeden Erwachsenen. Doch wie lässt sich an einem gemeinsamen Thema arbeiten, ohne die Kinder in ihren Ausdrucksmöglichkeiten einzuschränken? Wie die Balance zwischen Rahmung und Freiheit in der Praxis gelingen kann, berichtet die Atelierista und Leitung des Kölner Fantasielabors Verena Görgen.
Wie die Menschen eigentlich früher gemalt haben, als man noch keine Pinsel, Schwämme und Stifte im Supermarkt kaufen konnte, fragten die Kinder bei ihrem letzten Besuch im Fantasielabor. Ich griff Amins Vermutung »Die haben was anderes genommen« und Nadas Ergänzung »... oder selbst gebaut« auf und bereitete für ihren heutigen Besuch einen Tisch mit verschiedensten Materialien vor, aus denen sich Pinsel und andere Gegenstände herstellen lassen. Manche der Materialien waren augenscheinlich zur Herstellung eines Malwerkzeuges geeignet: Stöcke in verschiedenen Dicken und Längen, Äste, Federn, Kohle, gesammelte Sträucher, Kreppband, Kleber. Andere Materialien irritierten und schienen auf den ersten Blick aus Versehen auf dem Tisch zu liegen: Wolle in verschiedenen Farben, Wäscheklammern, Blätter, Stoffreste, Schwämme und Blumen. Die Materialien waren ästhetisch ansprechend auf dem Tisch präsentiert. Sortiert nach Form, Farbe und Beschaffenheit strahlten sie Klarheit, Ordnung und Struktur aus.
Die Einladung
Zusammen mit den flüssigen Farben, Pastellkreiden, Wachsmalern und Buntstiften im Regal wirken die Materialien offensichtlich einladend auf die Kinder. Vorfreudig und mit einer riesigen Portion Neugier lassen sie das Angebotene auf sich wirken. Amin greift als erster beherzt zu. Es ist die weiße Feder, die ihn anzieht. Er betrachtet sie ganz genau, streicht mit ihr über seine Hand, inspiziert die Spitze, imitiert mit ihr zu malen. »Ja, das ist es« scheint sein Gesichtsausdruck zu sagen. Er vergleicht ein paar Stöcke miteinander, Länge – Dicke, hält sie neben die Feder und beginnt, das Kreppband um Feder und Stock zu wickeln, um sich sein eigenes Malwerkzeug zu bauen. Es dauert keine fünf Minuten, da hat Amin seinen selbst hergestellten Pinsel fertig und kann kaum abwarten, ihn in Aktion zu sehen.
Vorsichtig tunkt er die Spitze in blaue Farbe, beobachtet, wie die Feder die Farbe annimmt und beginnt zu zeichnen. Interessiert, wie anders als z.B. ein Pinsel oder ein Schwamm sich die Feder auf dem Papier bewegt, passt er seine Bewegung dem neuen Werkzeug an. Völlig versunken in sein Tun betrachtet er die Spuren, die sie hinterlässt. Wichtig für ihn scheint uns, das Verhalten des Feder-Pinsels auszuprobieren, kennenzulernen, wie er sich auf dem Papier verhält, und ins Gestalten zu kommen. Er hat ein Ziel vor Augen. »Ich male ein Haus«, sagt er.
Hundert Sprachen, hundert Denkwege, hundert Pinsel
Und was machen die anderen Kinder mit den Materialien? Ella fühlte sich direkt zu Beginn von den Wäscheklammern angezogen. Sie inspizierte die Materialien sorgfältig und begann zu konstruieren. Jetzt ist sie bei ihrem zehnten Pinsel. Jeder einzelne Pinsel ist mit Liebe zum Detail erstellt und mit Wolle zur Verzierung umwickelt. Jeder Pinsel ist besonders: Der eine fasst eine Blume zwischen den Klemmen, der andere ein Stück Kohle. Mit Eifer und Geduld produziert sie weitere Pinsel. Sie ist konzentriert und gibt auch bei friemeligen Arbeiten nicht auf. Pinsel für Pinsel entsteht und es scheint, als sei genau das ihr Ziel und nicht deren Einsatz.
Zwei Kinder wiederum bauen gemeinsam an einem großen Pinsel, ein Mädchen ist in das Tupfen mit einem selbstgebauten Malwerkzeug vertieft. Immer wieder tupft sie die schwammartige Fläche des Pinsels im gleichen Abstand auf das Papier und beobachtet, wie unterschiedlich die Tupfer aussehen, obwohl sie doch mit demselben Pinsel gemacht werden. Sie vergleicht auch die Menge der Farbe im Verhältnis zum ausgeübten Druck. Mehr Farbe macht große, gesättigte Tupfer. Sie beobachtet auch, wie die Farbe nach mehreren Tupfern verblasst, bevor sie den Pinsel wieder in die Farbe tunkt. Fast schon meditativ füllt sie das Bild gänzlich mit Punkten im immer gleichen Abstand und schaut, wie sich der Pinsel in Bewegung verhält, indem sie anschließend alle Punkte miteinander verbindet.
Verena Görgen ist Frühförderpädagogin (M.A.), Atelierista, Fortbildnerin sowie ausgebildete Fotografin und Yogalehrerin. Mit den Schwerpunkten ästhetische Bildung, Reggio- Pädagogik und Entspannung mit Kindern leitet sie das Fantasielabor.
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Den vollständigen Beitrag und weitere Artikel zum Thema können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 09-10/2021 lesen.