Kinder entdecken Unendlichkeit
Dinosaurier oder Wählscheibentelefone – alles ist für Kinder so alt wie Babyfotos von Erwachsenen. Die Journalistin Jutta Gruber und der Filmemacher Andreas Münzer interessiert, wie Kinder Zeit wahrnehmen und Veränderung erleben. Ihre Beobachtungen durchwirken sie mit Perspektiven aus der klassischen Antike und der modernen Sprachwissenschaft.
Wie nehmen wir Zeit wahr? Fühlen wir sie vielleicht nur, wenn wir zu viel oder zu wenig davon haben, und vergessen sie, wenn nur der Moment zählt? Wenn wir nur noch »bei der Sache« sind, wie die beiden Kinder beim Versuch, Holzquader auf einer wackeligen Holzscheibe zu stapeln? Ein ums andere Mal purzeln die Quader samt Scheibe vom kegelförmigen Ständer. Das scheint die beiden jedoch kein bisschen zu frustrieren. Ganz im Gegenteil: Sobald alles aus dem Gleichgewicht gerät und herabpoltert, quietschen sie vergnügt auf und starten den nächsten Versuch, die Quader auf der Wackelscheibe auszubalancieren. Ihr Mienenspiel wirkt, als existiere für sie – in diesem Moment – nur das Spiel mit der Balance.
Das zeitvergessene Tun der Kinder erinnert uns an das Buch über die Pirahã (gesprochen: Pidahan), ein kleines indigenes Volk im Amazonasgebiet Brasiliens, das uns vor einiger Zeit begeisterte (s. Lesetipps). Der Sprachwissenschaftler Daniel Everett lebte mit seiner Frau und seinen beiden Kindern sieben Jahre bei ihnen, um ihre besondere Sprache zu lernen. Zum Beispiel unterscheiden die Pirahã nicht zwischen Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft, sondern ausschließlich zwischen »Jetzt« und »Nicht jetzt«. Das ist etwa so, als würden wir lediglich zwischen »heute« und »anderntags« unterscheiden – und unser Gegenüber würde sich aus dem Kontext erschließen, ob »anderntags« bereits stattgefunden hat oder noch stattfinden wird.
Die Pirahã kommen damit gut aus. Daniel Everett nennt sie das »glücklichste Volk«.
Die Zeit beim Schopf packen
Im seichten Wasser türmt ein Mädchen Kieselsteine zu einem Inselberg auf. Bis zu den Knöcheln steht sie im Wasser. Sie wirkt zielstrebig, bis ihre erwachsene Begleitung ruft: »Elma, wir müssen los!« Das Mädchen beendet ihr Spiel. Als die beiden loslaufen, klingelt das Handy der Frau. Sie stoppt und geht ran. Können wir Gedanken lesen oder bilden sich vor unseren Augen auf dem Gesicht des Kindes tatsächlich quälende Das-kann-jetzt-dauern-Sorgen ab? Gerade noch verfügte sie selbst über ihre Zeit. Wie anders fühlt sie sich jetzt?
Auch in der Kita erleben wir vergleichbar unterschiedliche Zeitqualitäten. Neben der Zeit, die das Kind selbst gestaltet, gibt es die getaktete Zeit mit täglich wiederkehrenden Ritualen. Die Bring- und Abholzeit, die regelmäßigen Gruppenaktionen oder die Essens-, Öffnungs- und Schließzeiten. Je mehr Raum wir Kindern geben, in dem sie selbst bestimmen, womit sie ihre Zeit verbringen, um so besser ist es nicht nur für ihr Erleben von Partizipation und Selbstwirksamkeit, sondern auch für ihr Lernen und das Herausfinden, wo ihre Leidenschaft liegt. Dass unser Leben nicht im Chaos endet, wenn wir die Anliegen der Kinder ernst nehmen, erleben die Eltern des vierjährigen Vincent. Bereits mit zwei Jahren brachte er seine Ideen und Eindrücke auf Papier. Seine Eltern erkannten seine Leidenschaft fürs Malen und stellten ihm einen Zeichentisch ins Kinderzimmer, legten großformatige Papiere und Malstifte bereit und erlaubten ihm, so viel Zeit mit Malen zu verbringen, wie er es sich wünschte. Zur Zeit porträtiert er überwiegend Tiere, deren Bewegungen er zuvor beobachtet hat, vor allem Vögel – auch in der Kita. Seiner Erzieherin sagt er da auch schon mal: »Ich will jetzt malen und nicht gestört werden.«
Andreas Münzer ist Diplom-Designer, Filmemacher und Fortbildner im Elementarbereich und spürt gemeinsam mit der Journalistin und Körperpsychotherapeutin Jutta Gruber Impulse für die Elementarpädagogik auf. Sie engagieren sich für eine humanistische Pädagogik, die ganzheitlichem, partizipativem und mit den Lebensthemen, Anliegen und Fragen der Kinder verbundenem Lernen Raum gibt.
Kontakt
www.andreas-muenzer.de, www.juttagruber.de
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Den vollständigen Beitrag und weitere Artikel zum Thema können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 05-06/2021 lesen.