Ob Notbetreuung oder Impfung: Die Umsetzung von Vorgaben zur Eindämmung der Corona-Pandemie fordert von Kitateams eine Menge Flexibilität und Organisationstalent bei gleichzeitigem Fachkräftemangel. Unter anderem davon, wie unterschiedlich sie in den einzelnen Bundesländern unterstützt werden, berichten die ver.di-Gewerkschaftssekretärin Marlene Seckler (NRW) und Toren Christians (Bremen), stellvertretender Personarats-vorsitzender beim städtischen Eigenbetrieb KiTa Bremen und Mitglied des ver.di-Bundesfachgruppenvorstands Sozial-, Kinder und Jugendhilfe.
In den letzten Wochen wurden die Stimmen der Kita-Beschäftigten, z.B. für die Einstufung als durch Corona besonders gefährdete Berufsgruppe, immer lauter. Inzwischen wurden einige Forderungen, mit denen sie sich an die Öffentlichkeit wendeten, erfüllt. Hat Sie das überrascht?
MS: Dass die Politik auf einige Forderungen eingegangen ist, überrascht uns nicht. Schließlich gehört der Zugang zu Hygieneschutzmaterialien, Testungen und Impfungen während der Pandemie nicht nur für Kita-Personal zur Arbeitgeberpflicht und ist kein Almosen. Viele Beschäftigte ärgern sich nach einem Jahr Pandemie vor allem darüber, dass diese Arbeitgeberfürsorge nur zum Teil oder sehr spät gegriffen hat, und fühlen sich von der Politik im Stich gelassen. Die Corona-Situation hat ja weniger neue Systemschwächen geschaffen, sondern schon lange beklagte offengelegt. Wo es schon zuvor eklatante Engpässe gab, wie beim Personalmangel, hat die Pandemie die Probleme verschärft und den KollegInnen1 über viele Monate überdurchschnittlich hohe Anstrengungen abverlangt – physisch und psychisch.
TC: Nein, nicht wirklich. Wir haben schon lange versucht, die Politik und Arbeitgebenden auf allen Ebenen davon zu überzeugen, dass unsere KollegInnen in den Kitas schlechter zu schützen sind als die KollegInnen z.B. in Pflegeberufen. Überrascht bin ich davon, wie lange es brauchte, bis sich wichtige Argumente durchsetzten.
Wie lange wird es dauern, bis alle Kita-Beschäftigten, die dies wollen, geimpft sein werden?
MS: In NRW haben der Gesundheits- und der Familienminister keine flächendeckende Regelung aufgestellt, sondern das Impfmanagement den Kommunalverwaltungen überlassen. Deshalb haben die Impfungen in einigen Kommunen bereits begonnen und in anderen noch nicht. Der Zugang zu Impfbescheinigungen, die Frage, ob die Impfungen während der Arbeitszeit erfolgen, sowie der Ort, wo geimpft wird, ist in NRW sehr unterschiedlich gestaltet und mancherorts sogar noch unklar. Wann in NRW alle Kita-Beschäftigten, die wollen, geimpft sein werden, hängt insofern zum einen von der jeweiligen Kommunalverwaltung ab und zum anderen davon, ob genügend Impfstoff vor Ort zur Verfügung steht – und das wiederum ist Bundessache!
TC: In Bremen haben alle KollegInnen inzwischen zumindest die Möglichkeit für den ersten Impftermin bekommen. Aktuell wissen wir noch nicht, wie viele die Impfung ablehnen bzw. aus medizinischen Gründen nicht geimpft werden können. Von vielen KollegInnen, die ihre erste Impfung bereits Ende Februar erhielten, bekamen wir positive Rückmeldungen über die Abläufe um die Impfung. In Bremen sind die ersten ErzieherInnen schon geimpft, in anderen Bun-desländern wurde noch nicht einmal damit begonnen. Deshalb lässt sich das nicht realistisch einschätzen, wie lange es dauern wird, bis alle KollegInnen ein Impfangebot bekommen und wahrgenommen haben. Am Ende wird Corona auch im Kita-Jahr 21/22 ein großes Problem für die Arbeit in Kitas bleiben. Selbsttests und Impfungen verringern Probleme und Ängste – so wie vor Corona wird es noch lange nicht wieder sein.
Mittlerweile hat man direkte Erfahrungen mit Corona. Einige KollegInnen waren in Quarantäne, manche sind tatsächlich an Corona erkrankt und nicht alle konnten die Krankheit ohne Schäden hinter sich lassen. Warum wird die Erkrankung an Corona im Elementarbereich noch nicht als Berufskrankheit und den damit einhergehenden Vorteilen, wie der Bewilligung von Reha-Maßnahmen oder neuen Behandlungstherapien bei Folgeerkrankungen, anerkannt?
MS: Anders als bei der Berufsgruppe Pflegepersonal fällt eine Erkrankung an Covid-19 bei Kita-Beschäftigten nicht unter das Label Berufskrankheit. Kita-Beschäftigte haben es nicht mit Kranken, sondern in der Regel mit gesunden Kindern zu tun und stellen bislang gegebenenfalls eine Anzeige als Arbeitsunfall. Dieser Begründungszusammenhang hat sich seit Corona sehr geändert, denn die Beschäftigten können sich vor der Ansteckungsgefahr durch Kinder oder Erwachsene nicht schützen. ver.di fordert deshalb die Anerkennung als Berufserkrankung.
TC: Die Anerkennung von Berufskrankheiten ist offenbar ein kompliziertes Verfahren und mit der Krankheit Corona haben wir erst seit einem Jahr Erfahrungen. Bei der Anerkennung von Berufskrankheiten in anderen Zusammenhängen erinnere ich mich an langjährige Prozesse. Beim städtischen Eigenbetrieb KiTa Bremen haben wir Corona-Erkrankungen als Unfallmeldung an die Unfallkasse gesendet. Seit einiger Zeit ermöglicht diese auch Reha-Maßnahmen und seit einigen Wochen gibt es zudem einen speziellen Vordruck für die Meldung einer Corona-Erkrankung als Unfallmeldung an die Unfallkasse, der den Leitungen viel Arbeit spart.
Die von Ihnen vertretenen Bundesländer Bremen und Nordrhein-Westfalen unter-scheiden sich nicht nur flächenmäßig, sondern auch hinsichtlich der Vorgaben, wie auf Bundesebene beschlossene Corona-Verordnungen umzusetzen sind. Man hört in diesem Zusammenhang immer mal wieder vom »Sonderweg«, den NRW eingeschlagen hat. Was ist damit gemeint?
MS: Im ersten wie im zweiten Lockdown forderte Kanzlerin Merkel als Ergebnis aus dem Gespräch mit den MinisterpräsidentInnen bei steigender Inzidenz verlässlich die Schließung der Kitas. Auch die Medien haben das immer wieder so dargestellt. In NRW jedoch wurden die Kitas nach dem ersten Lockdown nicht mehr geschlossen. Da Bildungspolitik Ländersache ist und der NRW-Familienminister den Eltern gegenüber eine Betreuungsgarantie ausgesprochen hat, wurde der Schließungsappell der Kanzlerin trotz steigender Infektionszahlen ignoriert. Dieser NRW-Sonderweg wurde leider auch in weitern Bundesländern beschritten. In allen anderen Bundesländern hingegen orientierte man sich am Schließungsaufruf der Kanzlerin und richtete die Notbetreuung nach den landesweit gültigen Regelungen ein. Dort wussten die Eltern, wer Anspruch hat und wer nicht, und es kam erst gar nicht zu Zerwürfnissen zwischen Eltern- und Beschäftigteninteressen. Im Vordergrund standen die Kinder, deren Wohl, deren Erziehung und Bildung. Andere Bundesländer haben ebenfalls Lockerungen in die Wege geleitet. Eine Betreuungsgarantie gab es – soweit ich weiß – nur in NRW. Diese war für uns in Anbetracht des Personalmangels und des fehlenden Gesundheitsschutzes nicht nachvollziehbar. Dass sie Anfang 2021 trotz weiter steigender Infektionszahlen und dem zusätzlichen Auftreten ansteckenderer Mutationen aufrechterhalten wurde, brachte bei vielen Kita-Beschäftigten das Fass zum Überlaufen. Statt eines landesweiten Stufenplans mit klaren Regeln für alle Beteiligten und der Garantie für möglichst hohen Beschäftigtenschutz stand die Lockerung der Betreuungsangebote für Kinder im Vordergrund. Der Appell an die Eltern, ihre Kinder doch möglichst zu Hause zu betreuen, hat dem Ganzen die Krone aufgesetzt. Viele Beschäftigte sehen sich heute noch von der Politik übergangen und ausgenutzt.
TC: Nach meiner Einschätzung gab es fast nur »Sonderwege« – im Grunde geht doch jedes Bundesland seinen eigenen Weg. Bis auf wenige Tage zu Beginn der Pandemie wurden in allen Ländern durchgehend Kinder betreut, gebildet und gefördert.
Das heißt, dass in vielen Bundesländern im Zweifelsfall die ErzieherInnen mit den Eltern ausdiskutieren müssen, wo die »Systemrelevanz« der Eltern endet oder wie viel Rotznase, salopp gesagt, für die Gesundheit der ErzieherInnen und der anderen Kinder nicht mehr akzeptabel ist. Wie wirkt sich das auf die Beziehung zwischen ErzieherInnen und Eltern aus und wie erleben das die Kinder?
MS: Der Appell an die Eltern hat die politische Verantwortung, wer sein Kind weiter in die Kita geben darf und wer nicht, in NRW auf die Eltern und damit auf die Kita-Beschäftigten, in der Hauptsache auf Leitungen und ErzieherInnen abgewälzt. Dabei geraten die wichtigsten Bezugspersonen der Kinder in einen Konflikt. Die Situation der Eltern, die wegen ihrer Jobs die Kinder in die Kita bringen, und die der Kita-Beschäftigten, die die Gruppen klein halten müssen, um überhaupt ein Maß an Arbeitsschutz für sich gewährleisten zu können, hat zu einigen heftigen Auseinandersetzungen geführt. Dabei wurde Porzellan zerschlagen. Aufgrund der Professionalität seitens der Kita-Beschäftigten konnte in vielen Fällen deeskaliert werden. Gleichwohl hinterlässt es Spuren bei den Beteiligten, dass das Kindeswohl und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf weiterhin die Diskussion dominieren, während der Gesundheitsschutz der Beschäftigten vor Ort keine Rolle spielt und auch nicht durch eine landesweite Regelung einklagbar war. Ich hoffe, dass die wenigsten Kinder einem solchen Loyalitätskonflikt ausgesetzt waren und sind, der Schaden zukünftig eingegrenzt werden kann und Eltern wie Kita-Beschäftigte wieder eine gute Kooperationsethik erlangen.
TC: Diese Frage müsste man den KollegInnen vor Ort stellen. Ich weiß, dass die unklaren und oftmals praxisfremden Vorgaben allen Kitas viel Arbeit gemacht und bei den Eltern zu Unzufriedenheit geführt haben. Der ständige Wechsel der Bedingungen hat Leitungen und Teams stark belastet. Abläufe, die normalerweise für ein Kita-Jahr gelten, wie die Aufnahme von Kindern, Gruppenzusammensetzungen, Dienstpläne etc., mussten in den vergangenen 12 Monaten unzählige Male verändert werden. Dieses Tempo von Veränderungen ist so nicht mehr durchhaltbar und bringt alle Beteiligten an ihre Grenzen.
1 Die Schreibweise schließt alle Genderformen ein.