Gemeinschaftliches Arbeiten im Atelier
Werkstätten und Ateliers sind leistungsfreie Räume, in denen sich Kinder frei entfalten können. Davon, wie individuelles Erleben und gemeinschaftliche Erfahrung miteinander einhergehen und wie wir Kooperation fördern können, berichten die Atelieriste Verena Görgen und Lina Kirsch aus dem FRÖBEL-Fantasielabor in Köln.
Umgeben von fünf anderen Kindern hockt die fünfjährige Sara auf dem Boden vor ihrem Arbeitsplatz. Abwechselnd blickt sie auf das vor ihr liegende Stück Pappe und die sie umgebenden Materialien. Nachdem sie alles ganz genau angeschaut hat, greift sie selbstbewusst und bedacht nach dem gelben Buntstift und malt behutsam einen ersten Punkt. Ein ums andere Mal hält sie inne und betrachtet ihr Werk, bevor sie den Stift gezielt für den nächsten Punkt ansetzt. Zeitvergessen spielt, erlebt und gestaltet Sara ihre ästhetische Erfahrung.
Die sechs Arbeitsplätze befinden sich auf zwei zusammengeschobenen Tischplatten. Jeder Arbeitsplatz ist gleich aufgebaut und auch die zur Verfügung stehenden Materialien, Farben und Werkzeuge sind identisch: Papierstücke, Holzstäbchen, Geschenkband, ein Obstnetz, ein Luftballon, ein Plastiktaler, Buntstifte, Wachs- und Pastellkreiden, Wasserfarben, Schere und Klebestift – alles in den Grundfarben rot, gelb und blau. Während sich Saras Pappe weiter mit gelber Farbe füllt, wird auch an den anderen Plätzen gemalt, geschnitten, geklebt, gestapelt, flächig verteilt, übermalt, überklebt und wieder auseinandergenommen. Einige Kinder bespielen ihre gesamte, von uns zuvor als Puzzleteil zurechtgeschnittene Pappe, andere eher einzelne Bereiche. Das individuelle Arbeiten an den Bildern geschieht weniger isoliert und isolierend, als es auf den ersten Blick erscheint.
Jedes Kind setzt sich auf seine eigene Weise mit dem Material auseinander, taucht in die Beschaffenheit von Papier und Farbe ein oder gibt sich den Bewegungen von Pinseln und Stiften hin. Doch sie tun es in einem geteilten Kontext und in einer gemeinsamen Lernkultur, im selben thematischen »Dunstkreis«, bzw. in einer Situation »leiblicher Ko-Präsenz der Mit-Subjekte geteilter Aufmerksamkeit und Interaktion«1, wie die Expertin für frühkindliche Bildung Roswitha Staege es nennt. In solchen ästhetischen Bildungsprozessen denken wir das Individuum immer im Kontext von Welt und vor allem im Kontext von Mit-Sein und Miteinander-Sein. Jede individuelle Erfahrung entsteht aus dem Miteinander und ist insofern immer auch eine geteilte Erfahrung.
Vom Einzel- zum Gemeinschaftswerk
Nach einer Stunde intensiver Beschäftigung kommen wir im Kreis zusammen, um staunend die einzelnen Werke zu einem gemeinsamen Werk zu vereinen. »Das passt dahin«, »Meins geht nicht«, »Du musst das so rum drehen«. Am Ende blickt Amelie auf das Gesamtkunstwerk und seufzt zufrieden: »Das war viel Arbeit«, und Tim ergänzt stolz: »Das haben wir alle zusammen gemacht!«
Jetzt liegen die Bilder nicht mehr nebeneinander auf den jeweiligen Arbeitsplätzen, sondern bilden ein Miteinander, etwas Neues, noch nicht Dagewesenes. Alle individuellen Gestaltungsprozesse zusammen schenken uns einen gemeinsamen Sinnhorizont und die Erfahrung, dass es ohne die einzelnen Teile kein neues Ganzes gäbe.
Unsere Arbeit im Fantasielabor ist getragen von Werten wie Gemeinschaft und Freundschaft, wie wir sie u.a. aus Reggio Emilia kennen, und unser Bildungsverständnis geht vom Kind aus, das sein Wissen und Können und seine eigene Entwicklung selbst mitgestaltet. Das Kind ist reich, denn es hat 100 Sprachen, die Welt zu verstehen, sich auszudrücken und in Austausch mit sich und der Welt zu gelangen. Es entwickelt seine Identität in Beziehungen zu anderen. In gedanklichen, emotionalen und handlungspraktischen Beziehungen strebt es danach, sich und die Welt verstehen zu lernen. Kinder wollen fragen, forschen und entdecken – auch hinsichtlich gemeinsamer Erfahrungen und kooperativem Miteinander.
Finden und gefunden werden
Die fünfjährige Elif tunkt den kleinen Borstenpinsel in die rote Farbe. Vor ihr liegen zwei mit Kreppband auf dem Boden aufgeklebte schwarze Kartons der Größe DIN A0 und um diese herum stehen weiße, rosa, rote und gelbe Flüssigfarben sowie verschiedene Rollen, Pinsel, Schwämme, Bälle und Borsten. Das Arrangement lädt zum Experimentieren mit den Farben und dem Material ein und einige Farbtupfer auf dem Boden bezeugen, dass hier bereits andere Kinder mit flüssiger Farbe gearbeitet haben. Den ersten Strich beginnt Elif behutsam in einer Ecke des Kartons. Weitere Striche formen sich zu einer konkreten Figur. »Eine Prinzessin«, sagt sie. Arme und Beine folgen und ein aufwendig gepinseltes Kleid.
Ihr gegenüber sitzt Maria. Sie tunkt die kleine Malerrolle in die gelbe Farbe, beobachtet, wie die Rolle die Farbe aufsaugt, und zieht mit ihr eine erste breite Farblinie. Versunken beobachtet sie die Spur und tunkt die Rolle weitere Male in die gelbe Farbe. Einige Linien später beginnt sie großflächiger zu arbeiten.
Die Rolle verwendet sie jetzt wie einen Schwamm. Als Maria bemerkt, dass auch ihre Hände gelb sind, macht sich ein überraschtes Lächeln auf ihrem Gesicht breit. Nachdem ihr Blick kurz zu mir gewandert ist, als wolle sie sich mein Okay holen, tunkt sie ihre rechte Hand in die gelbe Farbe. Mit dieser formt sie Kreise auf dem Papier. Dann bestreicht sie auch die linke Hand mit der Farbe und verteilt sie mit enormem Körpereinsatz auf dem Papier. Ihre Kreise werden größer und nehmen immer mehr Raum auf dem Papier ein. Sie nähern sich Elifs Prinzessin und vermischen sich schließlich mit deren rotem Kleid zu einer breiten orangen Spur.
Verena Görgen ist Frühförderpädagogin (M.A.), Atelierista, Fortbildnerin sowie ausgebildete Fotografin und Yogalehrerin. Mit den Schwerpunkten ästhetische Bildung, Reggio-Pädagogik und Entspannung mit Kindern leitet sie das Fantasielabor.
Lina Kirsch ist Erziehungs- und Musikwissenschaftlerin, Atelierista und Fortbildnerin in den Bereichen kulturelle und ästhetische Bildung. Als Koordinatorin arbeitet sie im Fantasielabor mit Kindern und Erwachsenen.
Kontakt
1 Staege R. (2016): Ästhetische Bildung in der frühen Kindheit. Weinheim/Basel, S. 50
Den vollständigen Beitrag und weitere Artikel zum Thema können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 09-10/2020 lesen.