Was Kinder wirklich brauchen
Freies Spiel ist notwendig, um die Grundqualifikationen in den emotionalen, sozialen, motorischen und kognitiven Kompetenzbereichen zu erwerben, sagen VertreterInnen der modernen Spielforschung. Kinder bräuchten dafür um die 15.000 Stunden intensives Freispiel, also bis zum vollendeten sechsten Lebensjahr sieben bis acht Stunden täglich.1 Jutta Gruber interessiert, was die Pädagogin und Befürworterin der Bildungsfreiheit Anke Caspar-Jürgens darüber denkt und was Kinder ihrer Ansicht nach für eine gesunde Entwicklung wirklich brauchen.
Anke Caspar-Jürgens, Sie engagieren sich seit Jahrzehnten für Bildungsfreiheit und gründeten den Bundesverband Natürlich Lernen! e.V. (BVNL). Was verstehen Sie unter freiem Spiel?
Offen gesagt, mag ich den Begriff des freien Spiels nicht, weil er unterstellt, dass es auch angeleitetes, also didaktisches Spiel gäbe, und dass Spiel und Arbeit zwei grundsätzlich unterschiedliche Tätigkeiten seien. Ich spreche lieber von freiwilligem, von innen her geleitetem Leben, in dem Lernen ständig und lebenslang geschieht. Maria Montessori nannte es die innere Führung – ein roter Faden, den man in sich spürt und der im Austausch mit der Außenwelt verwirklicht wird. Je stärker die Außenwelt mich dirigiert, umso weniger kann ich mich dem Bedürfnis meines Inneren widmen.
In Ihrem Buch »Lernen ist Leben« schreiben Sie zu Beginn des zweiten Kapitels: »Wer lebt, lernt – unvermeidlich. Leben beinhaltet Lernen. Es bedeutet, unentwegt Neues wahrzunehmen, zu reflektieren und zu integrieren.« Was meinen Sie damit?
Lernen ist ein menschliches Grundbedürfnis, allerdings nur, solange es intrinsisch motiviert sein kann. Ich bin deshalb überzeugt, dass es für die gesunde Entwicklung von Kindern am besten ist, wenn sie die Möglichkeit haben, selbstinitiiert, selbstgesteuert und bedürfniszentriert zu lernen. Ihre Lernprozesse sind, insbesondere wenn sie in Begegnungen und Erfahrungen wurzeln und in direktem Bezug zum persönlichen Erleben stehen, sehr individuell, effektiv und nachhaltig und oftmals mit Begeisterung verbunden.
Wie kann dieses Grundbedürfnis gelebt werden, ohne mit den Grundbedürfnissen der anderen zu kollidieren?
Menschen, egal ob jung oder alt, die ihrem roten Faden folgen dürfen, sind in der Lage, ihre eigenen Bedürfnisse auf organische Weise mit den Bedürfnissen der Außenwelt zu verbinden – mit denen der Mitmenschen und mit zunehmendem Bewusstsein auch für die der Tiere und Pflanzen und der gesamten Mitwelt. Selbst der Säugling, der ja besonders bedürftig ist, sein innengeleitetes Leben zu äußern – nach Nahrung, nach Wärme, nach Schutz –, reagiert sehr schnell darauf, wie das Außen auf ihn reagiert. Er ist lebensnotwendig darauf angewiesen, mit seiner Mutter in gutem Kontakt zu sein, und lächelt sie an. Das existenzielle Interesse am Wohlergehen der Mutter kann auch dazu führen, dass Kinder bereits als Säugling lernen, ihre eigenen Bedürfnisse zurückzustellen oder ganz zu verstummen. Wir wissen, dass Kinder sehr kooperativ sind.
Woran können wir unsere Fähigkeit zur Anpassung sogar an unmenschlichste Umstände von jenem organischen Verbinden der eigenen Bedürfnisse mit denen der anderen unterscheiden?
Das organische Verbinden der eigenen Bedürfnisse mit denen der anderen geht einher mit all dem, was sich zeigt, wenn Kinder intrinsisch leben dürfen: Mit Flexibilität, Neugier und Kreativität, mit Offenheit, Lernwillen und Lernbereitschaft, mit Akzeptanz von Unterschiedlichkeit und mit strahlenden Augen seitens aller Beteiligten. Freies Lernen wird oft als beliebiges Lernen wahrgenommen. Es beinhaltet aber tatsächlich, dass ein Kind umso bereiter ist, sich auf sein Umfeld einzulassen, je mehr man es auf eine würdige Weise, auf Augenhöhe ernst nimmt und unterstützt. Beziehung ist das Fundament! Verhalten sich Erwachsene dominant, hören Kinder ihnen oft gar nicht mehr zu, während in partnerschaftlichen Beziehungen ihre Augen und Ohren für die Anliegen der anderen weit offen sind.
Anke Caspar-Jürgens baute in den 1980er-Jahren die »Kinderschule Hamburg« als erste freie Schule der Stadt auf, begleitete von 1988 bis 1992 die Temenos Lerngruppe in Bayern und gründete 2000 den Bundesverband Natürlich Lernen! e.V. (www.bvnl.de), der sich für Bildungsfreiheit einsetzt. Sie lebt in einer Gemeinschaft von Menschen von null bis 90 Jahren im Lassaner Winkel und begleitet dort im Hütekreis die Prozesse der noch jungen demokratischen Kleinen Dorfschule. In der Dokumentation Lernen ist Leben. Die Familienschule: Wie Schule sein könnte, wenn das Lernen frei wäre beschreibt sie praxisnah und aus der Perspektive der Kinder, wie Lernen geschieht, wenn alle Beteiligten ihrer inneren Führung folgen dürfen. Das 2012 in Klein Jasedow erschienene Buch kann über den Buchhandel bezogen oder auf www.drachenverlag.de/buch/lernen-istleben.html kostenfrei heruntergeladen werden. Zu diesen Inhalten kann Anke Caspar-Jürgens zu Lesungen oder Vorträgen eingeladen werden.
Kontakt
1 Vgl. Krenz A. (2001) auf https://kindergartenpaedagogik.de/fachartikel/freispiel-spiele/418 (7.7.20)
Den vollständigen Beitrag und weitere Artikel zum Thema können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 07-08/2020 lesen.