Die Erweckung des dritten Pädagogen
Räume sollen ästhetisch sein, Geborgenheit vermitteln, Aufforderungscharakter besitzen, selbstverantwortliches Handeln fördern und pädagogische Fachkräfte im Praxisalltag unterstützen. Wie wir den dritten Pädagogen erwecken, warum es mit dem Vertrauen so eine Sache ist und was Kinder brauchen, die gegen alle guten Regeln verstoßen, berichtet Marion Tielemann im Gespräch mit Jutta Gruber.
Das Aushängeschild jeder Kita ist ihr pädagogisches Konzept. Sie sagen, ein Raumkonzept sei genauso wichtig.
Ja, unbedingt. Üblicherweise folgt das Raumkonzept dem pädagogischen Konzept. Es kann aber auch umgekehrt sein. Raumkonzept und pädagogisches Konzept stehen in Wechselwirkung zueinander. Sie ergänzen und tragen sich.
Welche Zutaten braucht es?
Damit der Raum als dritter Pädagoge wirksam wird – insbesondere in der offenen Arbeit ist das unerlässlich –, braucht es Materialien, die den Entwicklungsbedürfnissen der Kinder entsprechen, die inspirieren und neugierig machen. Die zweite Zutat sind die Möbel und deren Anordnung im Raum. Was das angeht, kann man viel gut und viel falsch machen. Und als Drittes braucht es uns, bzw. ein bestimmtes Verständnis von Begleitung.
Wie meinen Sie das?
Wir stehen nicht im Mittelpunkt des Geschehens, sondern begleiten das Tun der Kinder aufmerksam und wahrnehmend beobachtend. Wir sind für ihre Materialien und die Gestaltung ihrer Räume verantwortlich. Wir bringen ihnen – damit sie sich wohlfühlen – Vertrauen entgegen und sind ihre DialogpartnerInnen. Unser Umgang miteinander – mit den KollegInnen als auch mit den Kindern – ist wertschätzend. Kindliches Lernen ist Lernen am Modell. Deshalb entscheidet unser Umgang über den der Kinder miteinander und mit uns. Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus: Wenn wir wertschätzend kommunizieren, kommunizieren sie ebenfalls wertschätzend.
Welche Rolle spielt Vertrauen?
Vertrauen ist die Grundlage jeder Beziehung. Wenn es uns gelingt, Vertrauen Raum zu geben – Vertrauen in uns selbst, in unser Team, in unser pädagogisches Konzept und in die Kinder –, wird jeder Tag ein guter Tag.
Wie entsteht Vertrauen?
Vertrauen entsteht zwischen kleinen und großen Menschen, wenn sie sich auf Augenhöhe begegnen und ermutigt fühlen, authentisch zu sein. Vertrauen anzunehmen ist relativ einfach. Vertrauen entgegenzubringen erfordert manchmal eine Menge Mut.
Mut wozu?
Vertrauen verlangt den Verzicht auf Kontrolle. Das ist nicht gerade eine bequeme Haltung! Es kann durchaus sein, dass der oder die Vertrauen Schenkende sich mit gewissen Ängsten auseinandersetzen muss. Um authentisch zu bleiben, müssen wir z.B. hin und wieder den Mut aufbringen, überholte Regeln und Verbote zu hinterfragen und damit möglicherweise auch den Gruppenkonsens in Frage zu stellen.
Das hat etwas mit Urvertrauen zu tun.
Genau! Es ist ja so: Das Kind wird in eine Welt geboren, die ihm völlig fremd ist. Um mit dieser an sich überwältigenden Situation klar zu kommen, hat die Evolution, salopp gesagt, das Urvertrauen erfunden: Jedes Baby kommt mit der unbewussten Erwartung zur Welt, dass es uns und der Umgebung, also seinem neuen Lebensraum vertrauen kann. Dafür, dass das Urvertrauen beim Eintritt in die neue Umgebung keinen Schaden nimmt, sondern sich weiterentwickelt, sind die Vertrauenspersonen verantwortlich.
Dasselbe gilt für die Eingewöhnung in den neuen Lebensraum Kita. Hier liegt es in der Verantwortung der BezugserzieherInnen den Raum dafür zu schaffen. In der von mir gegründeten Kita KitaBü nannten wir sie deshalb VertrauenserzieherInnen. Nach der Eingewöhnung wird die Verantwortung vom gesamten Team übernommen.
Das ist eine sehr anspruchsvolle Aufgabe.
Ja, das ist es. Genauso wie man kein bisschen schwanger sein kann, kann man auch nicht ein bisschen vertrauen. Der Modus »Vertrauen« ist entweder an- oder ausgeschaltet. Es gibt keinen Dimmer. Alle Kitateams, die erfolgreich von geschlossener auf offene Arbeit umgestellt haben, bestätigen das.
Wie können wir anfangen?
Das machen wir am besten mit einer Hospitation einer Kita, in welcher der dritte Pädagoge bereits wirksam ist. Pädagogische Fachkräfte berichten mir immer wieder, dass sie sich nie hätten vorstellen können, wie konzentriert und ernsthaft Kinder dort bei der Sache sind, ihren Interessen folgen und sich zuhören, wenn sie es nicht mit eigenen Augen gesehen hätten.
Und wenn es – beim besten Willen – mit dem Vertrauen nicht klappen will?
Insbesondere zu Beginn muss man davon ausgehen, dass nicht jedes Teammitglied vom Konzept der offenen Arbeit und der Sache mit dem »Vertrauen statt Kontrolle« gleichermaßen begeistert ist. Viele Fachkräfte sind es selbst noch von früher gewohnt, dass Entscheidungen »von oben« heruntergedrückt werden und in manchen Kitas ist das leider sogar heute noch so – z.B. wenn VerbundleiterInnen und FachberaterInnen im Auftrag der Träger Verbote oder Anordnungen ungebremst an die Leitungen und ErzieherInnen weitergeben.
Da ist Geduld angesagt und eine gründliche Vorbereitung der Leitung, denn sie steuert den Entwicklungsprozess des Teams, sorgt für Hospitationen und Fortbildungen. Wenn Teammitglieder noch keinen gemeinsamen Konsens erarbeitet haben und Misstrauen den Alltag dominiert, wenn ein Teil des Teams den Kindern mehr Vertrauen, Freiheit und Verantwortung entgegenbringen möchte und ein anderer Teil am Altbewährten festhält, können Fortbildungen weiterhelfen. ZweiflerInnen bekommen durch Fortbildungen die Möglichkeit, neue Wege zu entdecken, sich weiterzuentwickeln und mitgehen zu können. Persönlichkeitsentwicklung ist notwendig und liegt in unserer Verantwortung.
Marion Tielemann ist Leiterin des Instituts für pädagogische Kompetenz, Fachberaterin und Reggio-Anerkennungsbeauftragte, gründete Anfang der 1990er-Jahre die erste Modell-Werkstattkita »KitaBü« in Schleswig-Holstein und hat unzählige Kitas auf dem Weg, selbst eine Werkstattkita zu werden, unterstützt.
Kontakt
Lesetipps
Tielemann M. (2014): Ich mache mir die Welt, wie sie mir gefällt. Kunstprojekte in der Werkstatt-Kita. verlag das netz
Tielemann M. (2015): Werkstatt(t)räume für Kitas. 12 Werkstattbilderbücher von Atelier bis ZaBu. verlag das netz
Tielemann M. (2017): Menschen, Räume, Werkstatt(t)räume. Eine achtteilige Beitragsreihe in Betrifft KINDER (01-02/17, 03/17, 04/17, 05/17, 06-07/17, 08-09/17, 10/17, 11-12/17)
Den vollständigen Beitrag und weitere Artikel zum Thema können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 09-10/19 lesen.