Mit einem Naturpädagogen unterwegs
Reutlingen leistet sich etwas, was sonst Aufgabe der Forstbetriebe ist: Die Stadt bezahlt einen eigenen Naturpädagogen, der mit Kindern gerade aus »Brennpunktkitas« Waldwanderungen unternimmt. Er will die Kinder für den Bildungsort »Natur« öffnen. Barbara Leitner begleitete den Naturpädagogen Hansi Klöden bei einem Waldspaziergang mit einer Kindergruppe.
»Ich möchte, dass Du mitkommst.« Ada hat keine Chance. Dennis Börner, Bezugsperson für die Vierjährige und Auszubildender im Kinder- und Familienzentrum Ringelbachstraße kommt an diesem kalten Märztag mit Skianzug und Stiefeln und fängt das scheue Kind ein, um ihm beim Anziehen zu helfen. Früh um neun hätte sie lieber im Gruppenraum vor sich hingeträumt oder in der Ecke gekuschelt. Sie sei müde, sagt sie und sucht, wenn schon niemand bereit ist, sie zu tragen, eine erwachsene warme Hand, an der sie bei dem Ausflug still mitlaufen kann. Ganz anders als die anderen zwölf Gleichaltrigen. »Wir gehen mit dir in den Wald!«, hatten vier, fünf Jungen Hansi Klöden im Foyer ihres »Kifaz« begrüßt. Hansi Klöden ist Fachberater für Naturpädagogik in der Abteilung Kindertagesbetreuung bei der Stadt Reutlingen. Den Kindern ist er gut bekannt, weil er seinen Schreibtisch in den Räumen ihres Hauses hat.
»Der Wald« ist von der Kita in Ringelbachstraße gerade zwei Kilometer oder drei Stationen mit dem Bus entfernt. »Markwasen« heißt er und ist ein Naherholungsgebiet am Rand des Biosphärengebiets Schwäbische Alb, ein vierhundert Jahre alter Eichen- und Lindenhain.
Der Kletterbaum am Weg
Kaum erreicht die Gruppe den ersten Wanderpfad, stürmen Lukas, David und Paul den Berg hinauf, froh, nun endlich losrennen zu dürfen nach dem langweiligen Spazieren Hand in Hand. Zwei knochige Eichen am Ende einer kleinen Steigung sind der erste Haltepunkt für die Gruppe. Diese Pausen gliedern die Strecke. Sie geben den Kindern Orientierung und die Möglichkeit, ohne erwachsene Begleiter eine größere Distanz vorauszulaufen.
Die Eichen haben viele Äste unmittelbar über dem Boden und sind so ideale Kletterbäume für die Drei- und Vierjährigen. Nicht für Ada. Sie steht verloren rum, streichelt selbstvergessen das Moos, das frisch rings um eine Linde wächst. Bis sie die Rehe im Gehege entdeckt. Plötzlich kann sie rennen. Müht sich ein wenig wackelig die Gräben der Waldstraße entlang. Bückt sich nach dem trockenen Laub und reicht es dann den Tieren durch den Zaun. Da hat sie strahlende Augen und spricht auf diesem Weg ihre ersten Worte: »Ich will auch füttern.« Eine halbe Stunde noch zuvor hielt Ada den Blick unter dem langen lockigen Haar versteckt und verständigte sich nur mit Gesten. »Tiere sind oft der Türöffner«, kommentiert Hansi Klöden. »Da ist ein anderes lebendiges Wesen.« Bei Ada jedenfalls ist der Knoten geplatzt. Auch die anderen Kinder drängen sich nun am Zaun, um die Tiere zu sehen. An einer Eiche durften sie Futter, einige wilde Triebe mit zarten Knospen, mit einer Gartenschere abknipsen. Die munden den Tieren offenbar besonders gut, denn sie fressen den Kindern sie gierig aus der Hand.
Ein unbekanntes Terrain
Für die dreizehn Mädchen und Jungen, die an diesem Wintertag unterwegs sind, ist das die zweite Waldwanderung. Als Schnee lag, waren sie zum Rodeln bei den Hügeln der Markwasen – das war jedoch nicht ein Vergnügen für alle Kinder. »Einige hatten keine warme Unterkleidung an oder die Handschuhe nicht dabei und froren dann natürlich«, berichtet der offene, zugewandte Mann mit den fröhlichen Augen. »Wenn wir die Kinder aus Brennpunkt-Kitas mit der Umgebung und den Jahreszeiten vertraut machen wollen, müssen wir uns darauf einstellen, dass es Eltern gibt, die nicht immer wissen, was das bedeutet, in den Wald zu gehen.« So sollte vielleicht passende Ausrüstung und Kleidung auch in der Kita bereitgehalten werden, ist seine Idee. »Warum nicht für das Familienzentrum ein paar wattierte Hosen, Mützen und Hausschuhe besorgen? Eine Waschmaschine ist im Haus und dann werden die Sachen nach dem Ausflug gewaschen.«
Das Kinder- und Familienzentrum besuchen 99 Kinder mit 27 Nationalitäten. Viele Familien sind kaum vertraut mit ihrem Umfeld. Sie leben häufig mit drei, vier oder mehr Kindern beengt in Zwei- und Dreizimmerwohnungen. Obwohl der Wald fast vor der Haustür ist, nutzen sie ihn kaum als Spiel- und Erholungsraum für sich und die Kinder. Diesen Familien will der Naturpädagoge die Erfahrung nahebringen, wie gut es tut, im Wald zu sein. »Ich merke, dass aller Ballast von mir abfällt, wenn ich in den Wald komme. Das kennen viele Kinder, oft auch die Erwachsenen nicht, weil sie das nie erlebt haben.«
Der 55-jährige Pädagoge wuchs am Rande von Reutlingen auf. Mit seinen Eltern und Großeltern war er schon als kleiner Junge jede Woche im Wald – im Herbst zum Pilzesuchen oder um Heidelbeeren zu sammeln, im Frühling, um Schlüsselblumen zu pflücken. Für ihn war es auch Alltag, die Strecke in die Stadt zu Fuß zu laufen. Heute werden Kinder zumeist im Buggy oder Auto von A nach B bewegt. Den Eltern kommt es nicht in den Sinn, dass es mitunter auch anders geht. Deshalb entschied sich das Team des Familienzentrums, gemeinsam mit dem Naturpädagogen zweimal jährlich zu einem Waldwandertag einzuladen. »Die Eltern freuen sich über das Angebot und vor allem auch über die vielen unvermutet schönen Gespräche auf dem Weg«, erinnert sich der Fachberater. »Das gemeinsame Erleben der Natur ist eine Basis für ein gutes Miteinander und das baut Brücken.« Außerdem findet für die Kinder, Eltern und Fachkräfte der städtischen Einrichtungen zweimal im Monat ein Waldlauf statt. Auf diese Weise reagiert der Träger auf das veränderte Bewegungsverhalten, erklärt Hansi Klöden: »Man begibt sich zum Sport zu festgelegten Zeiten, an dafür bestimmte Orte. Dazwischen sitzen viele nur und bewegen sich mit ihren Fahrzeugen. Dadurch wird der Waldlauf ein Weg in die Natur, die als Ort erlebt, wird, der auch als Spielraum einlädt.«
Durch solche Unternehmungen lernen die Kinder, was sie sich oft nicht mehr zutrauen: Dass sie es schaffen, vier, fünf und mehr Kilometer zu bewältigen, auch wenn sie sich an das unebene Gelände gewöhnen müssen, und mal hinfallen können.
Hansi Klöden ist Naturpädagoge bei der Stadt Reutlingen.
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Den vollständigen Beitrag und weitere Artikel zum Thema können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 05-06/18 lesen.