Mutter Erde braucht neue HeldInnen
Das hingebungsvolle Tun eines Kindes lädt die Schweizer Naturpädagogin Nadja Hillgruber ein, über das Spiel in der Natur in seiner Bedeutung auch für ihre Bewahrung und ihre Kräfte nachzudenken.
Aus nichts wird alles
Die Szene könnte einem Märchen entsprungen sein. Es ist ein heißer Sommertag. Im Stadtpark findet ein Kinderfest statt. Es ist laut. Siebzig Aussteller konkurrieren auf dem Spiel- und Spassgelände um die Aufmerksamkeit der Familien. Mein Blick fällt auf ein Mädchen von drei oder vier Jahren. Es sitzt in der Hocke und lässt Kieselsteine durch ihre Finger rieseln. Völlig in ihr Tun versunken, merkt die Kleine nichts von dem Trubel um sie herum.
Hingebungsvoll spielt sie mit den Steinen. Sie gräbt Löcher, schiebt sie von links nach rechts, sortiert sie der Größe nach und verbuddelt sie. Für mich ist das ein kostbarer Augenblick und ich fühle mich an die alten Mütterchen aus den Märchen erinnert, die am Wegesrand sitzen und dem Held einen Rat mitgeben. Niemand weiß, wer sie sind, woher sie kommen und wohin sie wieder verschwinden.
Diese Szene kommt mir immer wieder vor die Augen und das Gedankenkarussell fängt an sich zu drehen. Immer neue Worte tauchen blitzend auf und reihen sich aneinander: Enkeltauglich, Transformation, Urspiel, Druck, Mutter Erde, Verantwortung, Kinder, Mittelpunkt, digitale Medien. Mir schwirrt der Kopf.
Ein Spiel mit allen Sinnen
Um Klarheit zu finden, treffe ich mich mit der Wildnispädagogin Sabine Simeoni, die 2017 das Buch »Wildes Naturhandwerk« veröffentlichte. Wir teilen die Faszination für das Spiel. In einem Wörterbuch wird es definiert: »Es ist eine Tätigkeit, die man zum eigenen Vergnügen macht und die keinen äußeren Zweck hat.« In Waldgruppen bemerkt Sabine einen anderen Trend: »Wir gehen in den Wald um zu …« Die Nutzenrechnung steht im Vordergrund, nicht mehr das Spiel zum eigenen Vergnügen. Spielen klingt nach Kinderkram und Zeitvertreib und habe nichts mit dem echten Leben zu tun. Sabine und mir bleibt die Spucke weg.
Wie spielten wir früher? Wir tauchen ein in unsere Erinnerungen: Wie wir im Sommer barfuß vor die Tür gingen. Wozu brauchten wir Schuhe? Wir schlichen die kalten Stufen im Treppenhaus hinunter. Vor dem Haus wartete der heiße Asphalt. Die Hitze pikste wie Nadelstiche in die Fußsohlen. Wir rannten um die Häuser, standen auf spitzen Steinen und schlugen uns die Zehen beim Rennen blutig. Wenn es gewitterte, erschnupperten wir den Regen, bevor es zu donnern begann. Auf dem Boden beobachteten wir die tanzenden, springenden Tropfen und versuchten sie zu zählen. Bei großer Hitze verkrümelten wir uns in den Schatten. Wir stritten und vertrugen uns. Wir langweilten uns, erfanden neue Spiele und hatten unsere Regeln. Mit den Nachbarn bekamen wir manchmal Ärger und lernten uns selbst zu verteidigen. Wir gründeten Banden und Clubs, die nur einen Tag bestanden. Wir aßen Butterbrote, tranken Limonade und teilten Kekse untereinander auf.
Wir waren eine Gruppe von bis zu zehn Kindern im Alter von vier bis zwölf Jahren, die ohne jegliche Aufsicht durch Erwachsene über Stunden hinweg gefahrlos spielen konnten. Wir wurden beschenkt mit der Erfahrung einer freien, naturnahen Kindheit und es ist die Frage, wie wir sie weitergeben – an unsere Enkel, die Helden der Neuzeit. Unser unbeschwertes Spiel mit allen Sinnen war keine kurzfristige egoistische Bedürfnisbefriedigung. Im Spiel erkannten und verstanden wir die Lebenszusammenhänge, die sich uns offenbarten.
Manchmal wird gesagt, ältere und jüngere Menschen verstehen sich deshalb so gut, weil die einen noch wissen woher sie kommen und die anderen ahnen, wohin sie eines Tages gehen. Ist das eine Verbindung die trägt, auch wenn es darum geht, altes Wissen weiter zu leben?
Was wussten die Hüter der Weisheit?
Im Gespräch wird Sabine und mir bewusst: Es geht nicht nur einfach darum, dass Kinder draußen spielen. Es geht um das Kind, das mit seinen Bedürfnissen und Talenten im Mittelpunkt steht. Es ist uns Menschen angeboren zu spielen. Es war schon immer da das Spiel. Es ist uralt, ein Urspiel. So alt wie unsere Urahnen.
Nicht wir gehen in die Natur. Sondern wir sind Natur. Wir sind auch Bäume, Steine, Tiere. Natur und Mensch lassen sich nicht trennen. Gegenwärtig sind wir dabei, diese Verbindung gänzlich zu verlieren, wenn wir nicht umdenken.
Jedes Kind wird mit der Fähigkeit zur Empathie geboren. Durch die emotionale Beziehung zu wichtigen Menschen kann es sich selbst und seine empathischen Fähigkeiten entwickeln. Die weisen Alten waren mit der Natur und mit dem Leben schlechthin verbunden und fanden so Zugang zu Wissen, das weit in die Vergangenheit zurückreichte. Sie waren wissend, um das Leben und seine Zusammenhänge. Sie waren die Hüter des Wissens, Eingeweihte in die Geheimnisse und dem Sinn des Lebens.
Ist es unsere Aufgabe, den Kindern die Freiheit wieder zu geben, in ihr Urspiel einzutauchen, damit sie im Leben mitspielen können? Wenn Kinder verlernen das Urspiel zu spielen, hören sie dann auch auf, das Leben mit all seinen Möglichkeiten zu erkunden? Verspielen sie dann ihre Potenziale, ihre Kreativität und Neugier? Denn auch heute muss jedes Kind jeden Entwicklungsschritt seiner Evolution selbst durchlaufen. Keiner davon lässt sich digital wegwischen. Und es ist auch nicht möglich, einfach ins nächste Level zu springen.
Nadja Hillgruber ist Naturpädagogin, Redaktionsleiterin für das digitale Fachblatt »Infothek Waldkinder«, Mitglied im Vorstand und Projektleiterin für Naturprojekte bei der Feuervogel Genossenschaft für Naturpädagogik in der Schweiz. Von der Wildnispädagogin Sabine Simeoni erschien 2017 das Buch »Wildes Naturhandwerk«
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Den vollständigen Beitrag und weitere Artikel zum Thema können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 05-06/18 lesen.