Den Wald entdecken in Windeln
»Regen ist das schönste Wetter«, erklären Kerstin Lange und Jana Seidel vom Waldkinder e.V. Freiburg für mich ziemlich überzeugend, und Brigitta Lange-Blinkert von der Waldwerkstatt Freiburg nickt zustimmend. Die Kinder lieben Matsch, da haben sie sinnliche Erfahrungen, die sie anderswo nicht erleben. Überhaupt öffnet der Wald die Wahrnehmung in besonderer Weise – und nicht nur die der Kinder. Deshalb erkunden die Freiburger Waldpädagoginnen bereits mit Anderthalbjährigen dort die Natur. Das Gespräch mit ihnen führte Barbara Leitner.
Ich finde es irritierend, dass eure Waldkinder gerade anderthalb Jahre sind. Sie können ja kaum laufen!
Jana: Dass die Kinder laufen können, ist Voraussetzung. Dann können sie bei den Waldkindern in einer Vormittagsgruppe betreut werden.
Kerstin: Oft sagen uns die Eltern, dass ihre Kinder am liebsten draußen sind. Diese nehmen wir auf, ab anderthalb Jahren aufwärts.
Kommen die Kinder mit den Eltern in den Wald?
Kerstin: Natürlich müssen die Eltern, wie in einer anderen Kita auch, ihr Kind eingewöhnen, wenn wir sie betreuen sollen.
Der Waldkinderverein entstand vor 20 Jahren aus dem Zusammensein der Eltern und ihren Kindern im Wald. Sie organisierten sich als Gruppe und als dann immer mehr Kinder zusammenkamen, wurde entschieden, Stellen zu schaffen.
Jana: Kerstin wurde als Sozialpädagogin eingestellt und ich als Forstwirtin. Jetzt gibt es noch zwei weitere Festangestellte.
Was geschieht, wenn Kinder schon mit anderthalb Jahren im Wald sind?
Jana: Die Kinder orientieren sich zuerst an uns. Wir laufen ihnen wie Entenmütter voraus und zeigen ihnen den Wald. Das nehmen sie neugierig an und werden auch gleich erfinderisch: Sie rutschen auf dem Po den Hang hinunter und klettern am Seil wieder hoch. Wir zeigen ihnen, womit wir uns wohlfühlen, und das inspiriert sie.
Brigitta: Ein Kind mit anderthalb bis drei Jahren verfolgt im Wald die gleichen Handlungsschemata wie ein gleichaltriges Kind in der Kita: Es läuft herum, transportiert Sachen, sortiert, schaut. Für mich ist die Hingabe der Kleinkinder – ich arbeitete in »normalen« Kitas und erlebe dann die Waldkinder – die Magie des Waldes. Hier haben die Kinder die Möglichkeit, die Dinge in ihrer ganz eigenen Geschwindigkeit zu entdecken. Sie können sie beobachten oder sich in sie vertiefen. Von außen gesehen passiert sehr wenig. Es geht um das Sein und das Sein-Können.
Ist diese Erfahrung an den Wald gebunden? Auch in der Kita können sich Kinder z.B. in das Sortieren vertiefen!
Brigitta: In den Kitas, in denen ich gearbeitet habe, sind die Kinder nur kurze Zeit draußen. Sie sind von morgens bis abends großem Lärm und häufig engen Räumen ausgesetzt. Das spürt man, wenn man die Kinder beobachtet. Im Wald ist Ruhe und mehr Raum. Die Kinder sind selten verzweifelt und weinen. Ich erlebe hier, dass die Kinder ein größeres Zutrauen entwickeln und unglaublich viel Kraft zeigen. Sie haben Mut, sich selbst zu erproben und sind dabei sehr unabhängig.
Welche Rolle spielen die Erwachsenen?
Kerstin: Natürlich suchen die Kinder die Beziehung zu uns. Deshalb machen auch wir eine Eingewöhnung. Auch die Eltern müssen ein gutes Gefühl haben. Dann unterstützt uns die Weite des Waldes. In der Regel haben wir zehn Kinder mit anderthalb Jahren, mit denen wir uns vertraut machen müssen, nicht gleichzeitig. Meist gibt es einige Kinder in der Gruppe, die schon ein Jahr oder mehr mit uns im Wald verbrachten und sich dort wie zu Hause fühlen. Die kennen die Rituale und wissen, wenn sie z.B. die Brote auspacken, wo das Papier hingehört und bringen es zum Mülleimer. Sie haben ihren Platz für sich gefunden. Manchmal sehen wir ein Eichhörnchen. Dem bringen wir Nüsse mit. Oder es wird Holz gesägt, wie heute.
Jana: Sägen ist immer ein großes Thema. Gerade haben wir viele Waldarbeiter mit Motorsägen und Funkgerät getroffen. Das spielen die Kinder dann nach. Ein Stock wird zum Funkgerät. Und ein Strick zum Seil fürs Abschleppen der Äste.
Kerstin: Der Verein besitzt eine feste Schutzhütte am Waldrand. Dort befinden sich zwei Kisten mit Spielzeug: Autos und Tiere, dazu Bücher. Das ist arm verglichen mit dem Wald. Er schenkt uns so viele Anregungen, wie wir sie gar nicht planen könnten. Der freie Raum und die Naturmaterialien stimulieren die Fantasie der Kinder. Sie werden Erfinder, Architekten, Waldarbeiter.
Brigitta: Das ist vielleicht der Unterschied: Alles ist echt, wahrhaftig. Das spüren Kinder. Diese Situationen werden nicht gestellt. Sie sind Alltag, und das ist einzigartig.
Was verlangt das von den BegleiterInnen ab?
Brigitta: Bei neuen Personen bemerke ich oft, dass sie etwas mit den Kindern machen wollen. Erwachsene helfen gern. Das brauchen die Kinder aber meist gar nicht. Sie wollen nur, dass wir da sind und sie tun lassen.
Jana: Ich bin sicher, dass es für die Kinder nur dann gefährlich ist, wenn wir sie vor der Natur und ihren »Gefahren« schützen wollen, aus Vorsicht vor Verletzungen. Die authentischen Erlebnisse stärken sie eher. Deshalb glaube ich, dass man diese Arbeit nur gut macht, wenn man dafür brennt und mit seinem Herz ein Waldkind ist.
Seid ihr Waldkinder?
Jana: Ich bin verbunden mit der Natur aufgewachsen. Als Kind wollte ich von Beruf Blumenpflückerin werden. Mein Vater war Angler und ich ging mit ihm oft an den See. Wir hatten einen Hund, mit dem ich draußen spielte. Später fuhren meine Freunde und ich mit dem Fahrrad in den Wald und wir bauten dort Hütten. Wir organisierten uns selbst. Hauptsache raus. Die Natur hat mich beruhigt, fokussiert und getröstet: Der Wandel der Jahreszeiten, das Spiel des Lichts im Blätterdach, die Kühle des Waldes, die Gerüche. So habe ich die wunderbar vertrödelten Tage im Wald genossen.
Kerstin: Ich habe zwei Geschwister, und meine Mutter war immer froh, wenn wir draußen waren. Dort hatten wir viel mehr Platz als in unserem gemeinsamen Kinderzimmer, konnten laufen, rennen, toben. Oder im Bach Schiffchen schwimmen lassen, Kränze binden und Autos zählen.
Brigitta: Das ging in den 1960er und 1970er Jahren noch. Unterdessen verschwinden die Kinder aus der Wirklichkeit. Andreas Weber hat recherchiert, dass in den 1950er Jahren Kinder noch einen Aktionsradius von acht Kilometern um das Elternhaus hatten. In den 1970er Jahren waren es drei, in den 1980er Jahren noch zwei Kilometer. Jetzt sind wir statistisch gesehen bei 200 Metern angelangt. Mit den Waldspielgruppen machen wir den Kindern Mut, sich die Umgebung zurück zu erobern. Kinder sollen draußen sein – im Wald und in der Stadt.
Gibt es im Wald auch eine Alltagsstruktur?
Kerstin: Sehr wichtig sind Rituale. Wir beginnen den Tag mit einem Lied oder einem Spiel. Vielleicht schauen wir uns auch zusammen ein Buch an, ehe die Kinder für sich allein im freien Spiel den Wald mit den Händen und dem Herzen entdecken. Wir verbringen Zeit wie in einer Familie miteinander. Dazu gehört auch, dass wir uns die Schätze anschauen, die wir gerade gefunden haben, und uns daran erfreuen.
Jana: Ein Kind spielt gerade mit einem Hammer. Er hämmert auf alles Mögliche ein, nutzt seine Kraft und kann das tun, ohne jemand zu gefährden. Ein anderes flechtet aus Ästen und Gras Figuren und lässt kleine Kunstwerke entstehen. Die Kinder folgen ihrer Intention und nutzen die Umgebung des Waldes dazu.
Brigitta: Am Nachmittag danken wir der Natur für ihre Gaben, die uns einen reichen Tag ermöglichte. Vielleicht legen wir dem Eichhörnchen zum Abschied ein paar Nüsse hin oder winken dem Kletterbaum zu.
Was sind eure Impulse für die Arbeit mit jungen Kindern im Wald?
Kerstin: Mein Wunsch ist, dass die Kinder den Wald so eigenständig wie möglich entdecken können. Gerade hat hier jemand eine Birke umgeknickt. Darüber trauern wir einen Moment und fragen uns: Wer macht so etwas? Gleichzeitig finden wir die Rinde toll, weil wir damit Feuer machen können. Also sitzen die Kinder und schruppen die Rinde ab bis die Birke braun ist. Dafür interessieren sie sich. Sie erfahren und spüren, dass alles in der Natur miteinander verbunden ist und lernen die natürlichen Zyklen von Leben und Tod kennen. Der Wald ist analog und darin liegt seine Kraft. Der Wald ist ein Zuhause.
Jana: Die Forstarbeiter fällen gerade viele Bäume. Die Älteren sind empört: »Was tut ihr mit unserem Wald!« Da bin ich als Forstwirtin gefordert und erkläre, dass das dem Wald dient, er sich so erneuern kann und das Holz in der Industrie gebraucht wird.
Verändert der Alltag im Wald die Beziehung der Kinder zur Natur?
Kerstin: Die Kinder begreifen sich als einen Teil von ihr. Regen ist für uns das beste Wetter, wenn wir draußen sind. Nicht der Sonnenschein. Es begeistert die Kinder, sich im Matsch zu suhlen, aus ihm Kugeln zu formen oder eine Matschschlacht zu erleben. Anfänglich wundern sich die Eltern, wie ihr Kind nach so einem Tag aussieht. Dann sagen wir, dass es eine unwiederbringliche Erfahrung für ihr Kind ist, alles das ausprobieren zu können, in die Pfütze zu springen, im Matsch zu wühlen. Ich denke, dadurch bekommen die Kinder ein Gefühl davon, wie wir Menschen mal gelebt haben.
Jana: Ich lasse die Kinder erkunden, worauf sie neugierig sind und herausfinden, was für sie spannend oder was eklig für sie ist. Ich dränge ihnen nicht meine Erfahrungen auf.
Kontakt
Brigitta Lange-Blinkert ist Waldpädagogin und Fortbildnerin.
E-Mail:
Kerstin Lange ist Sozialpädagogin und Jana Seidel-Burger Diplom-Forstwirtin, Atelier- und Werkstattpädagogin. Die beiden Frauen arbeiten beim Waldkinder e.V. Freiburg.
Web: www.waldkinder.net
Den vollständigen Beitrag und weitere Artikel zum Thema können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 05-06/18 lesen.