Wie viel dürfen Kinder wirklich? Teil 2
Dass Partizipation keine Selbstverständlichkeit ist, lasen wir im ersten Teil des Beitrages »Partizipation gesucht« von Caroline Ali-Tani (BK 11-12/17). In diesem zweiten Teil spürt die Erziehungswissenschaftlerin unterschiedliche Auffassungen von Partizipation auf und stellt dar, dass Personalmangel kein Hindernis sein muss.
Auf der Suche nach Partizipation betreten wir ein weites Feld. Der Blick in die Praxis wirft eine Vielzahl von Aspekten auf, wie z.B. den Unterschied zwischen Mitgestalten oder Selbstgestalten dürfen. Ein Beispiel aus meinen eigenen teilnehmenden Beobachtungen in Kitas zeigt, dass wir beide Varianten bereits in kleinsten Interaktionen zwischen ErzieherInnen und Kindern erkennen können.
In der Eulengruppe ruft Ina1, eine der Erzieherinnen, nach dem Frühstück alle Kinder noch einmal zusammen. Während Britta, die zweite Erzieherin, den Küchenwagen wegbringt, setzt Ina sich mit den Kindern im Kreis zusammen und sagt zu ihnen: »Wir wollten mal was mit euch besprechen! Wir haben einen neuen Teppich für unseren Gruppenraum geliefert bekommen und wollen mit euch gemeinsam gucken, wo der am besten hinpasst. Wer von euch möchte helfen, den Teppich erstmal hereinzutragen?« Alle 15 Kinder melden sich, weil sie gerne mitmachen wollen und Ina wählt vier von ihnen dafür aus. Als sich die fünf gerade auf den Weg machen wollen, kommt Britta dazu. Ina berichtet ihr kurz, dass sie schon Kinder ausgewählt hat, um mit ihnen den Teppich zu holen. Britta ist verwundert und sagt: »Wieso? Es können doch alle mit!« Die beiden Erzieherinnen verhandeln kurz. Ina ist sich unsicher, ob es mit allen Kindern zusammen klappt, aber Britta sagt dazu nur: »Wieso? Ist doch bestimmt lustig!« und so machen sich die Erzieherinnen zusammen mit den Kindern auf den Weg.
An diesem Beispiel wird zunächst deutlich, dass die Kinder ernst und wichtig genommen werden (»Wir wollten mal was mit euch besprechen!«). Ina spricht sie als gleichwertige Gesprächs- und EntscheidungspartnerInnen an, die als Gemeinschaft mit den Erzieherinnen über die Gestaltung des gemeinsamen Lebensbereiches entscheiden. Es zeigt sich allerdings auch ihre Befürchtung, dass nicht alle Kinder gemeinsam den Teppich tragen können. Dies kann man durchaus als Defizit-Blick auf die Kompetenz der Kinder werten. Zudem wird deutlich, dass sie ihre Entscheidung, den Teppich nur mit wenigen ausgewählten Kindern zu holen, aus ihrer eigenen Erwachsenenperspektive trifft und nicht aus der Sicht der Kinder. Ihr Interesse, dass der Vorgang ruhig und ordentlich organisiert wird, veranlasst sie, ihre Position und Entscheidungsmacht als Erwachsene zu nutzen und selbst zu bestimmen, welche vier der insgesamt fünfzehn Kinder, die eigentlich alle gerne mitkommen wollen, den Teppich holen dürfen.
Kindperspektive einnehmen
Britta, die andere Erzieherin hingegen – und hier wird deutlich, dass das Gradmaß von Partizipation oft von der individuellen Haltung abhängt – nimmt die Perspektive der Kinder ein. Sie löst sich von den für Erwachsene typischen rationalen, zweckorientierten Überlegungen und setzt Inas Bedenken außer Kraft, indem sie sagt: »Wieso? Ist doch bestimmt lustig!« Solch eine, der Lebenssicht von Kindern entsprechenden Denkweise findet man in der Praxis viel zu selten: Handlungen müssen nicht immer einen Zweck erfüllen, ein Ziel möglichst schnell erreichen oder ein bestimmtes Ergebnis erzielen. Sie können auch einfach nur Spaß machen. Kinder haben andere Interessen, Absichten und Fantasien und diese müssen ausgelebt werden dürfen!
Kurze Zeit später kommen die Kinder und die beiden Erzieherinnen mit dem Teppich über den Flur. Alle tragen den Teppich gemeinsam und Britta hatte recht: Es ist lustig! Es wird viel gelacht, einige Kinder stolpern, doch schließlich kommt der Teppich im Gruppenraum an. Die Kinder rollen ihn zunächst in der rechten Ecke des Raumes aus. Anschließend räumen sie die linke Ecke frei und rollen ihn dort aus, um beide Plätze auszutesten. Britta sagt zu ihnen: »Wir brauchen ganz doll eure Hilfe!« Daraufhin setzen sich alle im Kreis auf den Boden, um abzustimmen, wo der Teppich liegen soll. Britta fragt, wer für die linke und wer für die rechte Ecke des Raumes ist und die Kinder melden sich für den Platz, an dem sie sich den Teppich wünschen. Alle sind sich einig und stimmen für die linke Ecke des Raumes. Die Kinder sind begeistert dabei. Es müssen noch einige Möbel verrückt und der schwere Teppich in die linke Ecke getragen und ausgerollt werden. Wieder wird die ganze Zeit viel gelacht, z.B. als beim Ausrollen des Teppichs plötzlich ein kleiner Hügel zu sehen ist, weil der Hausschuh eines Jungen unter dem Teppich vergessen wurde. Spätestens als sie beginnen, etwas mit seiner runden Form und grünen Farbe zu assoziieren – ein Mädchen ruft: »Das ist ein Sumpf!« –, merkt man, dass die Kinder durch den Prozess der Mitgestaltung zu ihrem neuen Spielteppich einen Bezug aufbauen und er für sie nicht lediglich ein »Gegenstand« im Raum ist. Als der Teppich an seinem Platz liegt, probieren die Kinder ihn begeistert aus. Sie laufen darauf im Kreis, tanzen oder fassen sich zu zweit an den Händen und drehen sich, bis sie umfallen.
Der Prozess der gemeinsamen Raumgestaltung hat fast den gesamten Vormittag in Anspruch genommen. Den Kindern wurde Verantwortung übertragen und Wertschätzung vermittelt und sie erlebten sich als EntscheidungsträgerInnen, woraus eine gestärkte Identifizierung mit der Kita als ihrem (Lebens-) Raum hervorging. Betrachtet man diese Auswirkungen, so stellt sich die Frage, warum nicht viel öfter von festen Strukturen oder dem ewig gleichen Morgenkreis abgewichen und mehr Raum geschaffen wird für das Kinderrecht »Partizipation«. Oft scheinen Faktoren wie Personalengpässe, mangelnde Zeit, z.B. aufgrund fester Abläufe und Strukturen oder Befürchtungen seitens der ErzieherInnen, wie die von Ina in meinem Beispiel, Partizipation zu beeinträchtigen. Doch das muss nicht sein!
Partizipation ist immer möglich?
Letztlich scheinen die genannten Faktoren erst in Verknüpfung mit einem Defizitblick auf die Kompetenzen der Kinder, echte Partizipation zu verhindern. Dazu möchte ich Ihnen zwei weitere Beispiele aus meiner teilnehmenden Beobachtung vorstellen. Beide schildern Situationen aus der vielleicht schwierigsten Zeit im Ablauf eines Kitatages, dem Mittagessen. Trotz ähnlicher Rahmenbedingungen und belastenden Ausnahmefaktoren werden diese gänzlich unterschiedlich gestaltet.
In Kita 1 gibt es heute Kartoffelsuppe und Baguette. 17 Kinder sitzen am Tisch. Ihre Erzieherin Ulrike sitzt nicht wie sonst bei ihnen, sondern steht am Regal, wo das Essen und die Getränke stehen und geht dahin, wo sie gerade gebraucht wird. Sie sagt zu mir, dass mache sie so, weil sie heute alleine sei. Es ist ziemlich laut und unruhig. Ulrike ermahnt die Kinder häufig und weist sie, insbesondere in Bezug auf die Sitzweise oder die Besteckbenutzung, oft zurecht: »Die Hände kommen neben den Teller!« Als die meisten Kinder fertig sind, sagt sie: »Wer satt ist und Nachtisch will, der darf sich Nachtisch holen!« Sie ruft dafür jeweils drei Kinder auf, um sich ihre Schale mit Quark abzuholen. Der vierjährige Lukas hat noch seinen Teller mit Suppe vor sich. Ulrike schiebt von hinten seinen Stuhl an den Tisch, drückt ihm den Löffel in die Hand und sagt: »Löffel! Essen!« Dann fasst sie ihn bei den Schultern und fragt: »Was möchtest du jetzt? Möchtest du abräumen oder aufessen? Dann mach das doch bitte auch!« Weil heute ihr Geburtstag ist, teilt sie jedem Kind auch noch ein Stück Kuchen aus. Bei einigen Kindern verharrt sie, sagt dann »Bitte!« und wartet darauf, dass die Kinder sich bedanken. Ein Kind fragt: »Dürfen wir schon essen?« ...
Caroline Ali-Tani M.A. arbeitet als Erziehungswissenschaftlerin an der Universität Paderborn im Arbeitsbereich »Inklusive Pädagogik« insbesondere zum Thema Inklusion und Vielfalt in Kindertagesstätten, vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung und Wahrnehmung von Vielfalt in der frühpädagogischen Praxis.
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