Menschen, Räume, Werkstattträume
Das Entstehen einer Werkstattkita ist ein einzigartiger Prozess. Unterschiedlichste räumliche Voraussetzungen wollen berücksichtigt und pädagogische Haltungen reflektiert werden. Marion Tielemann, Fachberaterin und Gründerin der ersten Modell-Werkstattkita beantwortet in dieser Reihe oft gestellte Fragen zur Werkstattkita und beschreibt – zusammen mit den Kitaleitungen – gemeisterte Herausforderungen.
Schon Maria Montessori wies darauf hin, dass nicht die Kinder sich der Umgebung, sondern wir die Umgebung dem Kind anpassen sollen. Diese Aussage ist immer noch aktuell und gilt für alle Kitas, unabhängig davon, ob sie nach einem geschlossenen, offenen oder halboffenen Konzept arbeiten. Leider ist dies oft nicht der Fall und mitunter genügen – wie in der Kita St. Norbert in Bocholt – schon wenige Impulse, das zu ändern.
Die Begleitung der Kita interessierte mich, weil das Team schon länger und erfolgreich offen gearbeitet hatte. Erst mit der Aufnahme von unter Dreijährigen machte sich Unzufriedenheit breit. Die Leiterin Karin Stawski lernte ich zusammen mit einer sehr engagierten Erzieherin Brigit Lohre-Busch im Jahr 2011 in der von mir gegründeten Werkstatt-Modellkita KitaBü kennen. Sie schilderten die Situation in ihrer Kita als dramatisch – die gesamte offene Arbeit drohe »aus den Fugen zu brechen« – und weckten meine Neugierde herauszufinden, was dort wohl nicht mehr rund lief.
Bei meinem darauf folgenden Besuch war die Stimmung im Team tatsächlich sehr angespannt. Einige Erzieherinnen sprachen sich für eine Rückentwicklung zu geschlossenen oder halboffenen Gruppen aus, um die Kinder besser »im Griff« zu haben und die Anforderungen aus den Bildungsplänen erfüllen zu können. Die bisherigen Maßnahmen, die neu aufgenommenen Kleinstkinder zu integrieren, waren erfolglos. Zum Beispiel hatten einige Erzieherinnen die Materialien reduziert, um – aus ihrer Sicht – die unter Dreijährigen nicht zu überfordern. Scheren, Kleber, teure Papiere und Farben lagerten jetzt, zum Schutz der kleineren und zum Verdruss der größeren Kinder, an »kindersicheren« Orten wie den Schränken und Abstellräumen, während sich der große Flur in einen Renn- und Tobebereich mit entsprechendem, teils unerträglichem Lärmpegel verwandelte.
Altersgemischt oder entwicklungsgerecht?
Diese Situation erlebe ich häufiger in Kitas, die aufgrund der Aufnahme von U3-Kindern in den Elementarbereich aus derselben Not heraus auf die Idee kamen, ihre gesamte Raumordnung und Materialvielfalt den Bedürfnissen der jüngeren Kinder anzupassen. Alles, was vorher gut klappte, geht nun gar nicht mehr. Die älteren Kinder vermissen die für sie geeigneten Materialien und reagieren zurecht frustriert, wenn z.B. ihre Bauten von den jüngeren Kindern – ebenfalls zurecht und mit Vergnügen – umgeworfen werden. Ich hatte großes Verständnis für den Unmut der Erzieherinnen der Kita St. Norbert und ihren Wunsch, den Alltag mit allen Kindern in verlässlichen Beziehungen zu gestalten.
»Altersgemischt« und »entwicklungsgerecht« schließen sich nicht prinzipiell aus. Es gibt in jeder Kita Bereiche, wie z.B. das Kinderrestaurant, den Garten und allen voran der Rollenspielbereich, in denen Kinder aller Altersstufen lustvoll zusammen spielen und lernen. Die Älteren haben Spaß daran, mit den Jüngeren z.B. Familie zu spielen und die jungen Kinder orientieren sich in ihrer sozialen Entwicklung gern an älteren Kindern. Diese aber brauchen für ihre Persönlichkeitsentwicklung eine vorbereitete Umgebung, die für die Jüngeren oft nicht stimmig ist.
Als Faustregel gilt: Eine Altersmischung funktioniert von »oben nach unten«, aber nicht umgekehrt! Die Regel basiert auf der Beobachtung, dass ältere Kinder hin und wieder gern mit Materialien spielen und forschen, denen sie bereits »entwachsen« sind. Jüngere Kinder jedoch können mit den Materialien der älteren Kinder nichts anfangen, sind von ihnen einfach nur überfordert oder gehen auf eine Art damit um, die sich mit den Spiel- und Forschungsbedürfnissen der Älteren nicht vereinbart.
Deshalb plädierte ich ich im Fall von St. Norbert für eine entwicklungsgerechte Altersmischung durch Umgestaltung der vier Handlungsräume in drei »Wohnungen«. Eine für die fünf- bis sechsjährigen Vorschulkinder, eine für die Drei- bis Fünfjährigen und eine für die ein- bis dreijährigen Krippenkinder.
Ich konnte das Team für diese Idee gewinnen und gemeinsam erarbeiteten wir eine Leitlinie: Der Alltag soll den Kindern Schutz und Geborgenheit in einer guten Beziehungsqualität zu den Erzieherinnen vermitteln und ihnen gleichzeitig so viel Freiheit ermöglichen, wie sie altersgerecht selbst verantworten können.
Anschließend durchforsteten wir die Kita auf der Suche nach den Problemzonen und dachten dabei laut miteinander. Solch ein kreativer Prozess hat in der Regel immer ein gutes Ergebnis. Auf unserer Wanderung fiel auf, dass der große und breite Flur seltsam undefiniert war. Zumindest strahlte er kein bisschen Intimität, Privatheit oder Gemütlichkeit aus.
Das Phänomen anonym empfundener Hallen und Räume ist in meiner Arbeit, insbesondere in solch großen Kitas wie St. Norbert, häufig ein Thema. Sie wecken nicht nur in den Eltern das fragliche Gefühl, ob ihre Kinder hier wirklich gut aufgehoben sind, sondern auch in den Kindern selbst. Die Räume sind in ihrem Erleben – und das kann man sich gar nicht oft genug in Erinnerung rufen – zudem ja mindestens doppelt so groß wie für uns Erwachsene. Mich erstaunte es insofern nicht, dass die größeren Kinder von St. Norbert – ihren Entwicklungsbedürfnissen entsprechenden Materialien beraubt – das Toben als Ersatz entdeckten, wofür sich der große Flur auch sehr gut eignete.
Marion Tielemann, Leiterin des Instituts für pädagogische Kompetenz, Fachberaterin und Reggio-Anerkennungsbeauftragte, gründete Anfang der 1990er-Jahre die erste Modell-Werkstattkita »KitaBü« in Schleswig-Holstein und hat unzählige Kitas auf dem Weg, selbst eine Werkstattkita zu werden, unterstützt.
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Unser Buchtipp
Marion Tielemann
Werkstatt(t)räume für Kitas
12 Werkstattbilderbücher
von Atelier bis ZaBu
ISBN 978-3-86892-114-4
480 Seiten, mit Banderole
in deutsch, spanisch und englisch
Euro 39,90
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Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 04/17 lesen.