Gelebte Mehrsprachigkeit in der Kindheit
Mehrsprachigkeit wird in Deutschland zwar als gesellschaftliche Realität anerkannt – mehrsprachig aufzuwachsen gilt hingegen noch immer als außergewöhnlich. Die Wissenschaftlerin Argyro Panagiotopoulou beschäftigt sich in ihrer jüngst erschienenen Expertise mit dem Sprachgebrauch junger Kinder innerhalb ihres mehrsprachigen Fami-lienalltags sowie ihrer ein- oder mehrsprachig organisierten Kindertageseinrichtungen. Wir zitieren im Folgenden das Beispiel des Kindergartens der Deutschen Internationalen Schule in Montreal, Kanada, aus der Expertise der Weiterbildungsinitiative Frühpädagogische Fachkräfte (WiFF).
Frau Esser1: Die Kinder sprechen mit mir deutsch, drehen sich um, sprechen mit der Mutter französisch und mit dem Freund englisch (…). Und wenn ich ein Kind auf Deutsch anspreche und es antwortet mir auf Englisch oder Französisch, akzeptiere ich das genauso, ich bemerke an der Antwort hat es meine Frage verstanden und das ist für mich wichtig.
Im Interview beschreibt sie (die Erzieherin – Anmerkung der Redaktion), wie in dieser Einrichtung drei- bis fünfjährige Kinder Deutsch erwerben, indem sie auch translingual handeln. Der Kindergarten ist an die Deutsche Internationale Schule Montreal angeschlossen und verfolgt das Ziel, alle – auch Kinder aus nichtdeutschsprachigen Familien – auf die Sprache der Schule vorzubereiten, ähnlich wie dies auch in Deutschland (oft implizit) von Kindertageseinrichtungen erwartet oder beabsichtigt wird. Laut Frau Esser wachsen Neuankömmlinge aus Deutschland in der Regel einsprachig auf, während alle weiteren Kinder, die den Kindergarten der Deutschen Schule besuchen, mehrsprachig sind:
Frau Esser: Die Kinder, die hier in Kanada geboren oder aufgewachsen sind, sprechen meistens zwei Sprachen, oft ist Deutsch die Muttersprache, aber es kann zum Teil Spanisch, Arabisch sein und dann noch Englisch oder Französisch oder zum Teil auch alle drei Sprachen, die dann hier in der Schule die vierte Sprache Deutsch lernen. Kinder, die aus Deutschland kommen, haben wir beobachtet, sprechen überwiegend nur deutsch.
Kinder, die in Montreal mit drei oder vier Familiensprachen aufwachsen (z.B. mit Spanisch und Arabisch als die Sprachen der Eltern sowie mit Englisch und Französisch als die Sprachen der Mehrheitsgesellschaft), erwerben noch Deutsch in der Kindertageseinrichtung als die hauptsächliche Unterrichtssprache der Deutschen Schule. Ähnlich wie in Deutschland scheint es aber auch in diesem Fall kaum möglich zu sein, eine klare Reihenfolge der bereits erworbenen und noch zu erwerbenden Sprachen mehrsprachig aufwachsender Kinder nach dem traditionellen Muster L1+L2+L32 etc. zu (re-)konstruieren. Auch die Festlegung der »Erstsprache« im Rahmen der kindlichen »Primärsozialisation«3 oder die traditionelle Frage nach »der Muttersprache« lässt sich kaum beantworten. Zu den Sprachbiographien der Kinder, die Frau Esser im Interview beschreibt, scheint das metaphorisch formulierte Statement »Our Mother Tongue is Plurilingualism«4 viel passender zu sein. Dass die Kinder nicht nur monolingual Englisch, Französisch oder Deutsch, sondern auch translingual im Kita-Alltag kommunizieren, wird von der Pädagogin mit einem charakteristischen Beispiel illustriert:
Frau Esser: (…) dann kann ich sagen, (…) welche Sprache sprichst du denn zu Hause und dann kommt die Antwort »Je parle anglais«.
Im Kontext dieser institutionellen He-teroglossie handeln auch die ErzieherInnen des deutschen Kindergartens in Montreal nicht als deutsch-sprachige »Vorbilder«, sondern als bewusst mehr- und quersprachig handelnde Professionelle, die den dynamischen Sprach(en)-erwerb der Kinder begleiten. Dieses Verständnis bringt Frau Esser mit einem konkreten Beispiel zu ihrer eigenen didaktischen Vorgehensweise zum Ausdruck. Ihre Beschreibung zeigt zugleich, wie Kinder von (deutschsprachigen) Erzieherinnen konkrete Unterstützung erwarten und auch erhalten:
Frau Esser: Also die werden nicht forciert‚ »Ihr müsst deutsch sprechen« sondern wir lassen jedem Kind individuell sein Lerntempo; (…) ich hatte ein Kind das kam, »Frau Esser, ich habe zu Hause eh deep deep, was heißt deep«, und da sag ich »ein Tief«. »Frau Esser, ich habe zu Hause ein tiefes, tiefes«, gleich richtig konjugiert gehabt, und »what is a hole«; na sag ich »ein Loch« und dann ging’s wieder von vorne los und dann noch ein drittes Wort gefragt und das in einen Satz, deswegen; also wir setzen uns auch nicht hin und machen »Du musst das so und so machen«.
Mehrsprachige Kinder werden also als kompetente Lernende anerkannt, die translingual handelnd neue lexikalische Elemente aufnehmen, diese morphologisch manipulieren (konjugieren bzw. deklinieren), um sie dann zielgerichtet einzusetzen, damit sie sich, wie bei diesem Beispiel, monolingual deutsch ausdrücken können. Alltagsintegrierte Deutschförderung setzt offensichtlich keine sprachseparierende Förderpraxis voraus. In dem hier beschriebenen Beispiel realisiert sie sich als alltägliche Interaktion zwischen potentiell mehrsprachigen Kindern und pädagogischen Professionellen. Eine mögliche Deutung der hier beschriebenen alltagsintegrierten sowie mehrsprachig realisierten Deutschförderung lautet: es handelt sich um »translanguaging as padagogy«5.
Der zitierte Textauszug stammt aus:
Panagiotopoulou A. (2016): Mehrsprachigkeit in der Kindheit. Perspektiven für die frühpädagogische Praxis. Weiterbildungsinitiative Frühpädagogische Fachkräfte, WiFF Expertisen, Band 46. München, S. 25f.
Die Publikation kann auf www.weiterbildungsinitiative.de/publikationen kostenfrei bestellt oder als PDF heruntergeladen werden.
1 Erzieherin im Kindergarten der Deutschen Schule Montreal
2 L steht für Language, Sprache
3 Albers T. (2011): Sag mal! Kindergarten, Krippe und Familie: Sprachförderung im Alltag. Weinheim/Basel, S. 62
4 Meier G. (2014): Our Mother Tongue is Plurilingualism: A Framework of Orientations for Integrated Multilingual Curricula. In: Conteh J., Meier G. (Hrsg.): The multilingual turn in languages education. Bristol, S. 132–157
5 García O., Li Wei (2014): Translanguaging: Language, bilingualism and education. London, S. 120