Warum sich Bildung an den Kindern orientieren muss
Bildungsprozesse von Kindern sollten dann unterstützt werden, wenn sie stattfinden: im Alltag. Ein Beispiel aus dem Kitaalltag mit sechs Thesen von Marcel Pytka.
In der Ausbildung von Erzieherinnen und Erziehern werde ich oft mit der Frage konfrontiert, wie es innerhalb des »normalen« pädagogischen Betriebes möglich sein soll, Bildungsprozesse zu initiieren und zu begleiten, wenn doch der Tagesablauf mit so vielen vermeintlich wichtigeren Ablaufpunkten vollgestopft ist. Diese Frage berührt meiner Meinung nach nicht weniger als die Grundfeste moderner elementarpädagogischer Theorie und Praxis. Anhand des folgenden Beispiels möchte ich zeigen, dass gute pädagogische Arbeit nicht bedeutet muss, Kinder durch stundenplanähnliche Strukturen zu treiben, sondern vor allem im Aufgreifen von alltäglichen, vermeintlich unspektakulären Schlüsselsituationen zu finden ist.
Erstens: Wenn wir den Kindern folgen, praktizieren wir automatisch gute Pädagogik
Einige Kinder der Kita »Schafschwingelweg« beschlossen im Kitagarten zu spielen. Da fiel Noah eine Maus auf. Sie verschwand nicht flink in einem Versteck, sondern lag regungslos auf dem Boden. Schnell war für Noah klar: »Die Maus ist tot!« Und das tote Nagetier wurde zu einem unerschöpflichen Forschungsobjekt. Andere Kinder kamen hinzu, um einen Blick auf die tote Maus zu werfen. Von der Entdeckerlust gepackt wird klar, dass die bloße Betrachtung nicht genügt. Noah nimmt mutig einen Stock und dreht das tote Tier von der einen auf die andere Seite. Immer wieder wechselt er den Platz, um neue Eindrücke zu gewinnen und schaut noch genauer hin. Doch die Möglichkeiten, die Maus an Ort und Stelle weiter zu erforschen, waren aber gering. Deshalb stellte ich den Kindern die Frage: »Wo könnte man die Maus besser untersuchen?«
Kinder erzeugen Wissen über die Welt, indem sie sich Themen und Gegenständen zuwenden, für die sie sich interessieren und zu denen sie einen Zugang haben.
Sam-Luca kam auf die Idee, das Tier auf einen Tisch zu legen. Die Kinder gingen sehr achtsam mit der toten Maus um, während ich ein Blatt Papier holte, um die Maus zu transportieren. Voller Respekt verharrten sie um das Tier herum und gaben acht, dass sich niemand zu sehr näherte. Sie hatten verstanden, dass man tote Tiere zwar untersuchen darf, jedoch auch einige Regeln befolgen muss, um sich und andere zu schützen. Dass es Kinder im Alter von drei bis sechs Jahren schaffen, neben einem so interessanten Fund zu sitzen, ohne diesen zu berühren, sich zu streiten oder um die besten Plätze kämpfen, ist eine bemerkenswerte Fähigkeit.
Kinder lernen manchmal auch dann eine Menge, wenn wir das nicht absichtsvoll herbeiführen.
In der Mitte eines Tisches aufgebahrt, konnte nun die Maus noch intensiver erkundet werden. Bis hierher ist bereits viel geschehen. Die Kinder profitierten von ihrer Kompetenz der fokussierten Aufmerksamkeit, ohne dass (oder gerade weil) Fachkräfte sich nicht zu viel einmischten. Diese ermöglicht es, im-mer wieder neue Informationen zu verwerten, zu speichern, vor dem Hintergrund bereits gespeicherter Informationen zu bewerten und Entscheidungen zu treffen1.
Dann tauchte eine erste Frage auf, die den Erkenntnisprozess – nicht nur den des fragenden Kindes, sondern auch aller Zuhörer – zu lenken vermochte: »Warum ist die gestorben?«, fragte Lena.
Kinder erklären sich wahrgenommene Phänomene und glauben an Zusammenhänge zwischen den Phänomenen.
Lena verstand die tote Maus als Symptom eines Systems (das sie später als »Ökosystem« bezeichnen wird) und interessierte sich nun für den Wirkungszusammenhang, an dessen Ende eine tote Maus herauskommt. Eine Fachkraft könnte sich nun über den Lebensraum von Mäusen auslassen, deren Fressfeinde, Krankheiten und so weiter. Im Vertrauen darauf, dass sich kindliche Lernprozesse am besten in eigener Aktivität entwickeln, genügen kurze gezielte Fragen. Also fragte ich Lena: »Was meinst du denn?«
Als hätte sie nur darauf gewartet, präsentierte Lena ihre Hypothese zur Vorgeschichte: »Vielleicht war das ein Rotmilan – der hat sie angegriffen.« Ein dialogischer Konstruktionsprozess nahm die Fahrt auf. Das »Vielleicht«, mit dem sie ihre Aussage einleitete, erkannte ich als ein Kommunikationsangebot. Nun wurde ich vom Organisator eines weißen Blattes zum Moderator. Ich erweiterte den Forscherkreis, indem ich in die Runde fragte: »Was könnte noch gewesen sein?«
Sam-Luca, der Ameisen im Fell der Maus entdeckte, stellte die Hypothese auf: »Vielleicht haben Ameisen sie totgebissen.« Dieser Gedanke entsprang vielleicht seiner Fantasie und dem Wissen um die scharfen Beißwerkzeuge der Ameisen. Niklas ergänzte die bisherigen Vermutungen und sagte: »Sie ist gestorben, weil sie zu alt war« und offenbarte damit vielleicht ganz reelle Erfahrungen aus der Lebenswelt.
Marcel Pytka ist Sozialpädagoge, Systemischer Sozialarbeiter und Dozent in der Ausbildung von ErzieherInnen. Er arbeitet als Leiter der Kita »Schafschwingelweg«, einer Kita mit ca. 220 Kindern und 30 Fachkräften in einem offenen Konzept.
Kontakt
1 vgl. Csikszentmihalyi, 2014, S. 50ff.
Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 11-12/15 lesen.