Die gesprochenen Worte der Kinder haben ein eigenes Leben, wie ein lebendiges Wesen. Dieses Denken in Sinnbildern unterscheidet sich vom rationalen Denken der Erwachsenen. Verstehen wir ihre Geschichten?
Wissen wir, wie Kinder ihre Lebenskräfte entfalten? Kinder erzählen uns Geschichten in eigener Sprache. Wenn man ihnen zuhört und sie verstehen will, so muss man sich auf ihre Bildsprache einlassen, in der sie leben. »Manchmal kommen so Bauarbeiter«, erzählt Emil. Er ist sechs Jahre alt. »Das letzte Mal haben sie unseren Kletterbaum abgesägt. Immer wenn wir auf dem Spielplatz sind, sehen wir das Auto und dann steigen die aus und schneiden immer alles raus, schneiden und dann wächst das immer wieder, dann schneiden die das wieder ab, dann wächst das wieder, weg, weg, weg, immer, das machen die.« Verstehen wir, was Emil mit seiner Geschichte sagen möchte?
Ein Teller voll Geschichten
In Kitas, als Lernorten frühkindlicher Menschenrechtsbildung, können Kinder ihre Rechte entfalten und erfahren. Klara Marleen Mildner und ich wollen wissen, was Kinder sich von Erwachsenen und ihren ErzieherInnen wünschen. Unser Anliegen ist es, ihre Wünsche zu erfahren und in Verbindung mit den Rechten der Kinder zu bringen. Kinderrechte, wie sie in der UN-Kinderrechtskonvention formuliert sind, basieren auf der Tatsache, dass Kinder im Laufe ihrer Kindheit Kompetenzen entwickeln, die sie zu mündigen Bürgern werden lassen. Ihnen wird die Achtung der Kinderrechte (vgl. Artikel 2, UN-KRK, das Diskriminierungsverbot) zugesprochen, wie unter anderem auch das Recht auf freie Meinungsäußerungen (vgl. Artikel 12, UN-KRK), das Recht auf eigene Identität (vgl. Artikel 8, UN-KRK) sowie das Recht auf Schutz und Fürsorge (vgl. Artikel 3, UN-KRK). Diese Rechte gewähren den Kindern Kompetenzen, die Widrigkeiten des Lebens zu bewältigen, sowie ihren Platz in der Gemeinschaft zu finden. Auf der anderen Seite sind Kinder jedoch auf Erwachsene angewiesen, um im Sinne der Konvention ihre Rechte entfalten zu können. Wir wollen dem Leser hier einen ersten Einblick geben, wie Kinder im Alter von fünf bis sechs Jahren magisch denken.
Zunächst haben wir zehn Kinder interviewt. Als Zuhörerinnen konnten wir erleben, dass wir bei all den Interviews manchmal im Dunkeln tappten und an Grenzen gestoßen sind. Es war nicht immer leicht, sich mit der eigenen Sprache an die Sprache des Kindes anzupassen und manchmal war es auch schwer herauszuhören, über welches Beziehungsverhältnis das Kind spricht. Jedes Interview ist und war ein neuer Versuch des Hineinhörens in die Sprache des Kindes, mit ihm reden und ihm antworten zu wollen.
Kinder erzählen einen Teller voll Geschichten. Sie wählen Begriffe, wie verschiedene Zutaten einer Suppe. Diese Begriffe können ebenso viel verbergen, wie sie auch Bedeutungsinhalte erkennen lassen. Man kann ja nach Geschmack und Belieben vieles in sie hineindeuten. Oder Kinder wählen Worte und kombinieren sie auf ungewöhnliche Weise, wie zum Beispiel Martin: »Der Korken ist der feste Freund der Flasche.« Sie benutzen Worte als Ausdruck ihrer sprachschöpferischen Fantasie. Sie sind noch nicht intellektuell gewordene und oft nicht einmal zu Worten gewordene Sprache.
Wort als Symbol
Ein Wort, wie »Baum«, ist ein geistiges Symbol. Es ist ein mehrdeutiges Erkennungszeichen. Wie ein Baum mehr oder weniger in der Natur wachsen kann, liegt an der Umwelt und den klimatischen Bedingungen. Der Mensch beschneidet ihn und dann wächst er wieder. Der Baum steht symbolisch auch für den Menschen. Man »schneidet immer wieder Blüten ab ganz viel«, meint Emil. Der Baum wird in Verbindung mit Feuer gesehen, als Symbol für die Lebenskraft des Menschen. In der indischen Tradition ist der Baum ein Symbol für die lebensspendende Kraft der Sonne. Im Islam ist er ein Symbol für Glück. Worte, wie hier der Baum, werden für einen bildlichen Ausdruck gebraucht, indem man ihnen ihre ursprüngliche Bedeutung entwendet, sie als Metapher benutzt und in einen fremd erscheinenden Bereich »hinüber trägt« (griech: »meta« = »hinüber«, »pherein« = »tragen«). Eine Metapher schließt den Vergleich »vorher« und »nachher« mit ein sowie andere Sprachen, Zeichen, Allego-rien und »Eselsbrücken«.
»Auf dem Baum kann man klettern (auch wenn Äste abgesägt wurden). Da ist jetzt ein halber Kletterbaum.« Diese Art von magischem Denken ist erwachsenen Ohren oft fremd geworden. Was ein Kind sagt, erscheint ihnen im ersten Moment als rätselhaft, sprunghaft und vielleicht unbegreiflich. Doch in seiner Erzählweise zeigt ein Kind uns seine Weltanschauung und das, was es im Innersten bewegt. »Die (Bauarbeiter) kommen immer, weil es immer so ist, weil die Bauarbeiter (…) haben den Beruf. Ich würde mir wünschen, die wären für immer weg. (...) Ja, die Blumen, die Baume wollen doch leben.« Emil wünscht sich »vom Erwachsenen, dass er nicht den Kletterbaum absägt.«
Was versteckt sich hinter Worten?
Was für Geschichten erzählt ein Kind mit drei Worten, wie »Zuhause«, »Sachen für Große« und »zwei Katzen«? »Abends, wenn Fußball kommt, motzen die immer und (die Katze) will immer zu essen haben, und dann gibt es immer was, dann gucke ich mit, und dann motzen die wieder, und dann gebe ich den wieder was zu essen und dann gucke ich wieder, dann motzen die, dann muss ich ihnen wieder (Essen) holen, wieder geben und dann ist es zu Ende.«
Die Sprache des Kindes springt von einem Vorstellungsbereich in den anderen, sie »motzen« und »dann gebe ich ihnen wieder« etwas. Dabei spielen bei der Wortwahl mentale Vorstellungs- und Traumbilder und der ethische Bildbegriff (Menschenbild, Vor- und Leitbilder) eine wichtige Rolle. Die Dialektik zwischen Wort und Bild lässt den geschichtlichen Prozess erscheinen. Sie zeigt das Wissen und die Sozialisation des Kindes, von wo und woher seine Sprache kommt.
Lili erzählt, dass sie nach dem Kinderladen zum Sport geht. »Ich habe jetzt schon Medaille gewonnen, eine echte. Ich habe schon den fünften Pokal und die fünfte Medaille gewonnen und ich brauche jetzt nur noch einen Pokal«. »Was musst du da machen, um den Pokal zu bekommen?« »Irgend etwas im Sport und Simone, meine Erzieherin im Sport, befehlt.« Was steckt hinter dem Wort »Befehl« für eine Haltung? »Fünfte Medaille«, »fünften Pokal« und »jetzt nur noch ein Pokal«. Oder: »Ich habe schon ein Kleid von Elsa, diesen Umhang und die Handschuh, (...) weil die Elsa, so Eis aus den Händen machen kann.«
Wort und Bild in Bewegung
Viele Worte können eine Quelle für Missverständnisse sein. Oder sie sind ein Mangel an Klarheit und Eindeutigkeit. Wie Bilder repräsentieren auch Worte weniger die Wirklichkeit, als vielmehr die Wahrnehmung, Fantasie und Erwartung ihrer Betrachter und Zuhörer. Jeder verbindet mit einem Wort ein anderes Bild. Beim Zuhören versucht man unbewusst oder bewusst mit dem eigenen Wissen über andere Bilder anzuknüpfen, an die man sich erinnert. So kann Zuhören zugleich auch Erfinden neuer Bilder bedeuten.
»Ich habe einen weißen kleinen Hund, (...) der ist ganz süß, dass man ihn knuddeln muss und mit ihm spielen muss«. »Wenn man gleich die Hand hinhält, dann muss man (sie) schnell wegziehen. Wir müssen schnell weggehen, damit wir gewonnen haben. Dann kriegen wir eine Rosine oder so.« Feine Unterschiede, wie »süß«, »knuddeln müssen«, Wiederholungen von »müssen«, »wenn man hinhält, muss man schnell wegziehen«, werden hörbar und lassen uns erspüren, ob ein Kind sich selbstbestimmt in einer Gemeinschaft wohlfühlt.
»Ich träume manchmal auch von gruseligen Sachen, ›Baymax‹ (einen Film) schaue ich am liebsten. (...) Wenn ich nicht Filme gucken darf, dann spiele ich einfach oder guck nur Kinderfernsehen und trink etwas Süßes oder so und manchmal Chips.« Worte können Brücken bauen zu dem dahinterliegenden und verborgenen Unwissen. Sind es Wunschbilder oder spiegeln sie die Gegenwart des Kindes wieder? »Mein größter Wunsch ist, dass ich groß werde, (...) dass ich in die Schule gehe, (...) dann bin ich erwachsen.« »Und was willst du machen, wenn du erwachsen bist?« »Fernsehen gucken.«
Oder Oli wünscht sich von den Erwachsenen »ein Plüschhai«, der ihn beschützt, »weil mein Bruder, der greift mich immer an. (...) Der schlägt mich immer, kratzt mich und kneift.« »Sehen dich Erwachsene, was du kannst?« »Nein, die spielen immer am Handy.«
Gerburg Fuchs ist seit 1990 freiberuflich tätig in der bewegungstherapeutischen, pädagogischen und künstlerischen Arbeit mit Kindern und in der Erwachsenenbildung. Sie gründete und leitete das Projekt »Aktive Kinderwerkstatt« in Nürnberg (1995–2008). Einen Ort, an dem Therapie, Pädagogik und Kunst, als eine ineinanderwirkende Einheit die Arbeitsweise mit den Kindern und insbesondere verhaltensoriginellen Kindern charakterisierte. Sie absolvierte ein Masterstudium »Childhood und Childrenrights« an der FU Berlin. Sie gibt Workshops, Seminare im In- und Ausland, entwickelt und realisiert Projekte und Filme. Sie ist Mitglied der IPA (Internationalen Playassosiation).
Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 08-09/15 lesen.