Ein pädagogisch-politischer Diskurs
Die Anschläge Anfang des Jahres in Paris haben uns gezeigt, wie plötzlich der Terror ganz nah sein kann. Unsere Reaktion darauf ist Angst. Das spüren auch unsere Kinder. Doch wie gehen sie mit der Angst um?
Gewalt, Terror, Krieg, Ängste und Panik prasseln durch die mediale Berichterstattung täglich auf uns ein. Gewöhnung tritt ein und damit die Verharmlosung des Schrecklichen als Abendunterhaltung: »Ist ja weit weg!« Tatsächlich?
Am 7. Januar 2015 lassen uns die Terroranschläge von Paris, so nah bei uns, aufschrecken, innehalten und nachdenken. Elf Mitarbeiter der Satirezeitschrift »Charlie Hebdo« werden kaltblütig ermordet, in der Folge werden noch vier Zivilisten in einem Supermarkt und zwei Polizisten auf offener Straße erschossen. Die Anschläge machen deutlich: Es kann jeden von uns treffen. Kinder, Jugendliche, alte Menschen – all das bunte Treiben. Ein harmloses Spiel, eine friedliche Situation kann sich in Sekunden ändern. Eine Störung tritt ein. Sicheres wird unsicher, Fröhliches schrecklich. Angst breitet sich aus, steckt an, lähmt uns. Der Satz des Caritasverbandes Passau (2014) »Weit weg ist näher als du denkst«, scheint sich zu bewahrheiten.
»Je suis Charlie«
Als aktive, wachsame Pädagoginnen, Künstlerinnen und Autorinnen ist es uns ein Bedürfnis, zu dem Geschehen in Paris in einem Artikel Stellung beziehen. Wir fühlen uns als freie westliche Bürgerinnen gleich dreifach betroffen:
- als Künstlerinnen: Die ermordeten Karikaturisten von »Charlie Hebdo« waren Künstler in ihrem Fach.
- als Pädagoginnen: Der Name der nigerianischen islamistischen Terrorgruppe Boko Haram kann übersetzt werden mit »Bücher sind Sünde«. Eine andere Übersetzung lautet: »Westliche Bildung verboten« oder »Die moderne Erziehung ist eine Sünde«. (Quelle Wikipedia)
- als Autorinnen: Was können wir in Zukunft wann und wo gefahrlos veröffentlichen?
Wir möchten auf Verunsicherungen in der Gesellschaft und damit auch auf Verunsicherungen der Kinder aufmerksam machen. Angst, Panik und die akute Gefahr sind scheinbar vorbei. Wie reagieren die Menschen in Paris auf dem Place de la Concorde in den Tagen nach dem Anschlag? Wie verhalten sich die Kinder und Jugendlichen? Ist ihr Urvertrauen erschüttert? Sie erlebten die Attentate durch die Erwachsenen. Die Angst ihrer Eltern und Erzieher macht die Geschehnisse für sie körperlich erfahrbar – nichts ist mehr virtuell und weit weg. Wie verarbeiten die Kinder dies?
Paris nach dem Gedenkmarsch – zwei Fotos
Mit zwei exemplarischen Fotos, die Kinder in unterschiedlichen Entwicklungsphasen und Lebenssituationen zeigen, möchten wir die Situation in Paris nach dem Gedenkmarsch beleuchten und Rückschlüsse auf das Angstverhalten in realen Lebenssituationen der Kinder aufzeigen.
Auf beiden Fotos wirkt die veränderte Umwelt auf die Kinder. Sie sind mit den anderen Passanten in einer gemeinsamen »Schicksalssituation« verbunden, mit deren Verletzung, Angst und Unsicherheit. Die Veränderungen der Erwachsenen in Stimmungen, Haltungen und dem »Überbordwerfen« alter sicherer Regeln durch Panik und Chaos machen sie betroffen und nachdenklich.
Was können Eltern, Pädagogen und Therapeuten diesen verängstigten Seelen erzählen? Wie trösten? Wie beruhigen? Ohne die Sache zu verharmlosen oder gar totzuschweigen?
Foto 1: Kind am Denkmal
Das Foto zeigt ein Kind, dem Körperschema nach zu schließen ist es etwa zweieinhalb bis drei Jahre alt. Es steht mit dem Rücken seitlich zum Podest des Denkmals am Place de la Concorde. Den Blick seitlich nach unten gerichtet, kritzelt es mit einem Stift in der rechten Hand auf einen Stein.
Der Platz vor dem Denkmal ist mit Blumen, Kerzen, Stiften, Plakaten und Graffiti bedeckt, den Überbleibseln der großen Demonstration. Inmitten dieser »Klagetreppe« steht das Kind versonnen, verunsichert und fragend.
Was mag es verstehen, von der Situation? Kann es in seinem Entwicklungsstand einschätzen, wer oder was »Charlie« ist? Kann es Erklärungen folgen und die Tat begreifen? Wer ist »Charlie«? Warum ist er gestorben? Warum sind die Leute traurig?
In seiner Lebenssituation ist das Kind noch nicht zu abstraktem Denken fähig, es hält sich am Konkreten fest, an den Stiften. Vielleicht denkt es in seiner belebten, animierten Welt, Charlie sei ein Stofftier, das gestorben ist und jetzt sind alle traurig.
Ängste im Kleinkindalter
Entwicklungspsychologisch betrachtet empfinden Kinder im Kleinkindalter große Angst, geliebte Dinge und Personen zu verlieren. Wenn eine geliebte Person das Zimmer verlässt, länger abwesend ist, dann ängstigen sich Kleinkinder und äußern dies zum Beispiel in verzweifelten Heulkrämpfen. Beim Zubettgehen brauchen sie für die Nacht einen Ersatz für die geliebte Person, nach Donald Winnicott ein »Übergangsobjekt«, wie ein Schmusetuch oder ein Stofftier, um die Angst vor dem Alleinsein auszuhalten.
Das Kind auf dem Foto kennt diese Ängste sicher auch, es kann nachempfinden, dass der Verlust eines Menschen etwas Bedrohliches ist. Weitere Einsichten in gesellschaftliche oder politische Geschehnisse bleiben ihm verschlossen. Doch auch schon Kinder können lernen, mit Ängsten umzugehen. Je nach Alter und Entwicklungsstand gibt es dafür unterschiedliche Formen der Verarbeitung.
Wir nehmen einen Moment lang an, das Kind befände sich schon im Märchenalter, also im Alter von ca. drei bis fünf Jahren, in dem das sogenannte magische Denken vorherrscht, sich Realität mit Fantasien und Tagträumen verbindet. Ein Kind dieses Alters »spinnt« sich seine eigenen Geschichten zusammen, vermischt Reales mit Märchenhaften: Verwandlungen von Situationen, Personen und Stimmungen mag es schon im Märchenland nachempfunden haben, sie sind ihm also im Prinzip vertraut. Mit Hilfe symbolischer Projektionen im Märchen kann es Ängste in sein Denken und Erleben einordnen.
Das Kind auf dem Foto ist noch jünger. Trotzdem spürt es, dass die sonst fröhliche Stimmung auf dem Place de la Concorde an diesem Tag geprägt ist von Bedrücktheit, Ratlosigkeit und Trauer. Der Platz ist verändert, Plakate, Blumen, Stifte, Kerzen als Zeichen der Trauer sind unübersehbar. In diesem Fall hat sich für das Kind auch etwas Positives ergeben: Stifte liegen dort. Auch für ein Kleinkind gibt es Möglichkeiten, gegen die Angst anzukämpfen: Dabei sein, mitmachen, dazugehören. – Das Kind auf dem Foto zeigt, was es kann: kritzeln.
Das Foto zeigt im Vordergrund links einen knorrigen Baumstamm mit einem Plakat: »Je suis sans etiquette«, frei übersetzt: »Ich gehöre keiner Partei an«. Das Plakat ist grob mit Plastikfolie um den Stamm gewickelt. Dahinter öffnet sich der Blick auf den Place de la Concorde, das Pflaster ist nass und ungemütlich. Zwei Jugendliche fahren Skateboard, dem Körperschema und der Tätigkeit nach zu schließen sind sie in der Entwicklungsstufe der Vorpubertät.
Im Vordergrund steht ein Junge auf einem Skateboard quer zum Baum, er lächelt einem anderem Menschen zu, der hinter dem Baum ist. Ein zweiter Junge kommt vom Place de la Concorde her angefahren und blickt auf den Jungen im Vordergrund. Im Hintergrund sieht man vereinzelt Menschen im Gespräch zusammenstehen, gehen oder am Rande der Straße warten. Kahle Baumreihen umsäumen das trostlose Bild mit einer Atmosphäre von Verlassenheit und Trostlosigkeit.
Die beiden Jugendlichen haben sich im Spiel gefunden. Der Platz scheint ihr gewohnter Spielplatz zu sein, für wagemutige Stunts mit dem Skateboard: Angst kitzelt im Bauch, normale »alltägliche« Angst des sportlichen Risikos und der Leistungssteigerung. Sie ist einfach zu bezwingen: Man macht sich Mut. Ist der Sprung ist gelungen, wurde die Angst besiegt.
Jetzt, nach der Demonstration, nach dem Attentat, kehrt der Alltag langsam zurück. Die Jugendlichen wagen sich wieder hervor, ihre Gesten wirken noch zögerlich, so als ob sie der Situation noch nicht ganz trauen würden. Der Platz hat sich verändert. Vorsichtig versuchen sie die allgemeine Stimmung von Gedrücktheit und Trauer zu überwinden.
Ängste im Jugendalter
Jugendliche in dieser Entwicklungsphase wissen schon einzuschätzen, was passiert ist. Sie haben schon Schrecken erlebt und gelernt, mit Angst und Gefahr umzugehen. Sie lauschen Diskussionen der Erwachsenen, Beiträgen in den Medien und sind in ihrem sozialen Umfeld und in ihren Gruppierungen betroffen. Fremdenfeindlichkeit, Karikaturen, andere Religionen sind ihnen nicht neu, sie begegnen diesen Dingen im normalen Stadtbild.
Einige Tage nach den Attentaten bei »Charlie Hebdo« hat es den Anschein, als wollten sie ihre alten Spiele wieder spielen und vergessen. Abenteuerlust, Bewegungsdrang und der Kontakt mit Gleichgesinnten lässt sie wieder zusammenkommen und gemeinsam skaten. Sie überwinden die Angst vor dem Terror durch das Spiel mit Gleichgesinnten.
Was ist Angst?
Der Begriff Angst hat sich seit dem 8. Jahrhundert von indogermanischen anghu »beengend« über althochdeutsch angus entwickelt. Er ist verwandt mit lateinisch angustus bzw. angustia für »Enge, Beengung, Bedrängnis« (siehe auch Angina) und angor »Würgen«. Angst ist ein Oberbegriff für eine Vielzahl von Gefühlsregungen, deren Gemeinsamkeit auf einer Verunsicherung des Gefühlslebens beruht. (Quelle Wikipedia)
Angst hat evolutionsgeschichtlich eine Schutzfunktion in Gefahrensituationen. Die körperlichen Symptome sind physische Reaktionen, die bei Gefahr die körperliche und seelische Unversehrtheit und im Extremfall das Überleben sichern sollen. Das Ausmaß der Reaktion ist dabei von Mensch zu Mensch verschieden.
Menschen haben seit jeher nach dem Überstehen von Gefahren überlegt, wie sie ihnen zukünftig begegnen, entkommen oder sie überwinden können. Um die Angst zu besiegen hat schon der Ur-Mensch vor mehr als 120.000 Jahren Gerätschaften, Waffen, Bauwerke, Rituale und Tänze ersonnen, um der Angst Herr zu werden. Angst war also auch schon immer ein Antrieb für Entwicklungen und Erfindungen.
Hans Zulliger (1893-1965), ein Schweizer Pädagoge und Kindertherapeut, der mit Freud zusammengearbeitet hat, nimmt zusammen mit diesem eine erste Klassifizierung von Ängsten vor, die er ausführlich und mit vielen Fallbeispielen erörtert. Hier wählen wir die Beschreibung der »Realangst«, Angsterlebnisse aus dem alltäglichen Leben – oder wie hier, im Ausnahmefall des Attentats von »Charlie Hebdo«.
»Entweder handelt es sich um eine reale Angst, dann sprechen wir von Realangst oder Furcht – oder die Angst entspricht inneren Phantasien, … solche Ängste haben neurotiformen Charakter.« (Zulliger)
»Meist sind die einzelnen Formen von Angst untereinander und mit psychoneurotischen Symptomen kombiniert.« (Zulliger, »Angst unserer Kinder«, 1966)
Heilende Kräfte im Spiel
Als wissenschaftlicher, pädagogischer Ansatz dienen hier die Forschungen über Kinderängste bei Hans Zulliger. Er gibt Ratschläge für Erziehende, wie sie mit diesen Ängsten umgehen können. Als therapeutischen Ansatz bietet er die Spieltherapie an, in der frei und ohne Zwang Ängste verarbeitet werden können.
Wichtig ist, in allen Fällen von angstgeschädigten Kindern und Jugendlichen aufmerksam und bewertungsfrei hinzuhören, besonders auf die wie beiläufig eingestreuten Bemerkungen, und auf die Gefühle und seelischen Verletzungen einzugehen und mit Angeboten zu reagieren, wie z.B. dem Schildern, Nachspielen und Besprechen realer Angstsituationen.
Zulliger weist in seinem Buch »Heilende Kräfte im kindlichen Spiel« (1952) darauf hin, dass mit freien Spielereien, Lehmspielen, Fingerfarbspielen, spielen mit Püppchen man Angstsymptomen begegnen und bei der Verarbeitung der »Schreck-, Angst- und Verunsicherungssituation« dem kindlichen Seelenleben helfen und es heilen kann. »Daß im Spiel, im frei erfundenen Kinderspiel, heilende Kräfte liegen, ist noch zu wenig bekannt. Im Spiel stellt der kindliche Patient alles dar, was ihn bewusst oder unbewusst bewegt, er bearbeitet seine Konflikte und kann sie – und damit auch ihre Symptomatik – unter der verständnisvollen Führung des Therapeuten lösen.« (Zulliger)
Wichtig ist, dass der Erwachsene sich zurücknimmt, keine Forderungen nach »schön« oder gar »Kunst« stellt, keine fertigen Werke erwartet, sondern das freie kindliche Spiel begleitet und kreative Impulse gibt. Eine wichtige Hilfe ist es auch, so Zulliger, in Abständen zu üben, keine Angst mehr zu haben, also ein Umgehen mit Ängsten zu erlernen.
Kinderängste und Ängste von Jugendlichen können sich, so Zulliger, auch mit der Zeit selbst »verwachsen«. Aber nur, wenn ihnen die Umwelt genug Zeit und liebevolle Aufmerksamkeit schenkt. Und nur, wenn keine schwerwiegende Traumatisierung vorliegt. Für alle länger anhaltenden Symptome empfiehlt sich das Heranziehen eines fachkundigen Kinder- oder Jugendtherapeuten.
Gedanken zum Schluss
Der Platz am Eiffelturm, auch Schauplatz des großen Gedenkmarsches am 11. Januar, vermittelt Trauer. Er wirkt trostlos im kalten Regen. Am Tag des Attentats war das Ferne plötzlich sehr nah … und hat uns in unserer scheinbar sicheren Umgebung getroffen.
Die zahlreichen Berichte aus den Krisengebieten führen uns das Schicksal vieler traumatisierter Kinder und Jugendlicher vor Augen. Auch wenn meist nur über militärische Auseinandersetzungen berichtet wird, so finden diese dort statt, wo Menschen leben wie wir.
Und jeden Tag werden es mehr, die Angst um ihr Leben haben.
Margarete Rettkowski-Felten
und Michaela Jordan
Die Fotografien entstanden kurz nach dem großen Gedenkmarsch am 11. Januar 2015 und sind Teil des Bilderzyklus »Tristesse« des Fotografen Kevin Jordan, Paris.