Warum Kitas im Umgang mit Flüchtlingskindern oft auf sich allein gestellt sind
Tala und Mohamed sind wieder da. Katharina Kienast ist erleichtert. Drei Wochen lang waren die vierjährigen Zwillinge nicht in der Kita. Zuerst bestand kein Grund zur Beunruhigung. Es waren Ferien. Da ihre große Schwester nicht zur Schule musste, hatten die Eltern auch Tala und Mohamed ausschlafen lassen. Schließlich sind sie jeden Morgen eine Stunde unterwegs. Das Flüchtlingsheim befindet sich am anderen Ende der Stadt. Den Eltern von Tala und Mohamed liegt viel daran, dass ihre Kinder zur Schule und in die Kita gehen. Sie möchten, dass sie etwas lernen und sich in die deutsche Gesellschaft integrieren, Freunde hier finden.
Nach den Ferien hatte der Sozialarbeiter aus dem Heim angerufen und Tala und Mohamed Abdallah krank gemeldet. Auch das war nicht besorgniserregend. Montag sollten sie ja wiederkommen. Aber sie kamen nicht am Montag. Auch am Dienstag nicht. Da ist Katharina Kienast unruhig geworden. Es ist noch nicht so lange her, dass die Mutter der Zwillinge in Tränen aufgelöst in der Garderobe gestanden und mit den wenigen deutschen Worten, die sie kennt, um Hilfe gebeten hat. Die Familie müsse Deutschland wieder verlassen, hatte sie gesagt. Sie sollten jetzt nach Bulgarien. Eine Elternsprecherin hatte das miterlebt und wollte sofort etwas tun. Aber was? Ein Schreiben aufsetzen? An wen? Die Wogen hatten sich dann glücklicherweise schnell geglättet. Ein Sozialarbeiter hatte erzählt, dass die Familie Abdallah einen Anwalt bekommen hätten und vorerst bleiben könne. Doch wie lange ist vorerst? »Gerade haben sich Tala und Mohamed so gut bei uns eingelebt«, sagt Katharina Kienast. »Sie spielen jetzt auch mit den anderen Kindern. Sie haben schnell Deutsch gelernt und sind an unsere Regeln und das Essen gewöhnt. In der Gruppe sind sie beliebt. Sie haben immer dieses Strahlen.
Die Kindertagesstätte »Käthe«, getragen vom »Netzwerk Spielkultur«, befindet sich wie viele Berliner Kitas im Erdgeschoss eines Altbaus. Die Räume sind freundlich und hell. Seit 2005 arbeitet Katharina Kienast als Erzieherin hier, seit 2010 leitet sie »Käthe«. Die 43jährige verkörpert das Bild einer Erzieherin, das in diesem sozial gemischten, multikulturellen Stadtviertel gut ankommt. Zugewandter, aufmerksamer Blick aus freundlichen Augen, keine pädagogische Strenge, eher eine Frau, der man zutraut, dass sie improvisieren kann. Eine unkomplizierte Frau, dank deren Führungsstil eine entspannte Atmosphäre in der Kita herrscht. Die 46 »Käthe«-Kinder bilden eine kleine, multikulturelle Gesellschaft. Ihre Eltern kommen aus zwölf verschiedenen Nationen, unter anderem aus Israel, Pakistan, Russland, Syrien, Thailand, Vietnam und der Türkei. Es ist erst das zweite Mal, dass Flüchtlingskinder bei »Käthe« angekommen sind. »Wir stellen die Kinder vor, sagen, aus welchem Land sie kommen und heißen sie willkommen. Der Krieg und die Flucht sind dabei kein Thema.«
Die Abdallahs sind vor dem Bürgerkrieg in Syrien geflohen. Den Stand ihres Asylverfahrens kennt Katharina Kienast nicht. Mit Aufenthaltstiteln und was sie bedeuten, brauchte sie sich bisher nicht zu beschäftigen. Es hat sie auch niemand darüber aufgeklärt, weder der Berliner Senat noch der Flüchtlingsrat oder irgendeine Hilfsorganisation, die sich um die Belange von Asylanten kümmert. Dabei haben die Asylverfahren Auswirkungen auf die Kinder. Eine Studie der nie-derländischen Sozialwissenschaftlerin Elianne Zijlstra aus dem Jahr 2012 zeigt, wie verheerend sich die Unsicherheit in den Flüchtlingsfamilien auf die Kinder auswirkt. Katharina Kienast hatte auch nicht gewusst, dass die Familie Abdallah nur drei Monate in dem Erstaufnahme-Heim in der Nähe der Kita bleiben darf. Der Sozialarbeiter hatte im Sommer 2014 angerufen und gefragt, ob zwei Plätze für Tala und Mohamed frei sind. Der Sozialarbeiter war beim Aufnahmegespräch dabei und hat übersetzt. Auch da war keine Rede davon, dass die Familie bald umziehen muss. Vielleicht hatten sie gehofft, bleiben zu können. Einige Wochen später, nach dem Umzug, hat Frau Abdallah gefragt, ob die Kita vielleicht etwas unternehmen könnte, damit die Familie wieder zurück in das erste, vertraute Heim ziehen kann. Aber Katharina Kienast konnte nicht helfen.
Tala und Mohamed sind wieder da. Alle atmen auf, auch die Köchin, die gerade süße Knödel in den Backofen schiebt. Als die Kinder sich für den Spielplatz fertig machen, zeigen die Zwillinge strahlend ihre neuen Winterjacken, die warmen Stiefel und die Handschuhe. Fäustlinge aus grauer Wolle, so etwas Lustiges haben sie noch nie getragen, in keinem der Länder, die sie auf ihrer zweijährigen Flucht durchquert haben und wohl auch nicht in ihrer Heimat Syrien. Tala mit dem herzförmigen Gesicht, den schwarzen Locken und dem neugierigen Blick zeigt allen, wie ihre Hände in den Fäustlingen stecken und wie man das kleine Stück Stoff, das sie aus dem Ärmelbund ihres Anoraks zieht, über die Handschuhe streift, damit sie nicht verloren gehen.
Der Erzieher der »Sonnenkinder« hilft Mohamed mit dem Reißverschluss. Er spricht mit Mohamed langsamer und deutlicher als mit den anderen Kindern. Vermutlich ist das gar nicht notwendig, denn die Zwillinge verstehen und sprechen nach fünf Monaten in Berlin jetzt schon sehr gut deutsch, Tala etwas besser als ihr Bruder. Tala findet schnell Kontakt zu anderen Kindern. Mohamed ist zurückhaltender und ernster. Immer wieder sucht er Talas schützende Nähe. Während sie sich anziehen, um zum Spielplatz im Wohngebiet zu gehen, sind sie glückliche Kinder, denen es gut geht, die warm stecken. Die Zwillinge scheinen sogar von allen die fröhlichsten zu sein. Vielleicht genießen sie auch, dass sich gerade alles um sie dreht. Tala lacht gern in die Kamera. Sie liebt es, fotografiert zu werden.
Während sie auf dem Spielplatz immer wieder über die Leiter auf das Deck des großen Piratenschiffs klettert und an der Stange nach unten rutscht, beobachtet Mohamed neugierig die größeren Jungs, die Sand auf die Rutsche werfen. Er blickt etwas ängstlich. Einer der Jungs möchte Mohamed ausschließen. »Du nicht!« Der Junge ist nicht aus der Kita. Die ganze Gruppe der Größeren ist nicht aus der Kita. Kaum vorstellbar, dass es kleine Rassisten unter diesen ethnisch bunt gemischten Kindern gibt. Es ist wohl eher Mohameds ängstliche Zurückhaltung, die ihn provoziert, sich als Bestimmer aufzuspielen. Mohamed klettert aber doch hinauf und rutscht einmal durch den Sand. Dann zieht er sich in den dunklen Bauch des Schiffs zurück.
Später, im Esszimmer, bleibt er noch allein am Tisch sitzen während alle anderen, auch Tala, es kaum erwarten können, aufzustehen und weiterzuspielen. Sorgfältig zupft er weiße Hautreste von seiner Mandarine und isst langsam, in Gedanken versunken, als wäre er an einem anderen Ort.
Im Spielzimmer hält er wieder Ausschau nach Tala und baut dann wie sie, ein Haus aus Legosteinen. Als es fertig ist, nimmt er eine Wolldecke und deckt sein Haus damit zu.
»Ich weiß nicht, was die Kinder erlebt und gesehen haben«, sagt Katharina Kienast. »Auf jeden Fall hat Mohamed Schlimmes gesehen. Soviel weiß ich. Ich bin nicht sicher, ob ich mehr wissen möchte. Ich wollte die Mutter beim Kennlern-Gespräch nicht danach fragen.«
www.netzwerk-kinderrechte.de
Durch die UN-Kinderrechtskonvention erhalten Flüchtlingskinder als eine besonders verletzliche Gruppe besondere Aufmerksamkeit. In der Konvention bezieht sich ein Artikel speziell auf Flüchtlingskinder (Artikel 22). Allerdings gelten für Flüchtlingskinder auch alle anderen Artikel wie beispielsweise das Recht auf Bildung und Gesundheitsschutz, auf Spiel und Freizeit sowie auf Partizipation und in allen sie betreffenden Angelegenheiten gehört zu werden.
Innerhalb der National Coalition, dem deutschen Netzwerk für die Umsetzung der Kinderrechtskonvention, arbeitet eine Gruppe mit Mitgliedern von verschiedenen Organisationen zum Thema Flüchtlingskinder. Sie treffen sich regelmäßig, verfassen Positionspapiere und sprechen mit Entscheidungsträgern, weil Flüchtlingskinder eine Gruppe von Kindern sind, deren Rechte in Deutschland in Gefahr sind. /unsere-themen/fluechtlingskinder.html
www.unicef.de
Dieser Bericht der UNICEF von 2014 erläutert die Schwachstellen des deutschen Ausländer- und Asylrechts, von de-nen vor allem Kinder betroffen sind. Der Zugang zu Bildung, medizinischer Versorgung und soziale Teilhabe wird massiv eingeschränkt, weswegen es sich hierbei um eine Handlungsempfehlung für Bund, Länder und Behörden handelt, die dabei helfen soll, das Wohl der Kinder vorrangig zu berücksichtigen. Auch für die pädagogische Arbeit kann man in diesem Bericht viele wertvolle Informationen zur rechtlichen Situation und den Lebensumständen von Flüchtlingskindern finden.
www.proasyl.de
Als unabhängige Menschenrechtsorganisation setzt sich PRO ASYL seit mehr als 25 Jahren für die Rechte verfolgter Menschen in Deutschland und Europa ein. Neben Öffent-lichkeitsarbeit, Recherchen und der Untersützung von
Initiativgruppen begleitet PRO ASYL Flüchtlinge in ihren Asylverfahren und steht ihnen mit konkreter Einzelfallhilfe zur Seite. Diese Webseite bietet grundlegende Informationen zum Thema Flüchtlinge und Asyl.
www.fluechtlingsrat.de
In jedem Bundesland gibt es einen Flüchtlingsrat, an den man sich bei Fragen oder Problemen in Bezug auf Flüchtlinge und Asyl wenden kann. Diese unabhängige Vertretung engagiert sich für Flüchtlingsselbstorganisationen, Unterstützungsgruppen und Solidaritätsinitiativen. Sie verfügt in vielen einzelnen Fragen über das Wissen, wie konkret geholfen werden kann.
www.bpb.de/gesellschaft/migration
www.bpb.de/gesellschaft/migration/dossier-migration
Die Bundeszentrale für politische Bildung bietet einen sehr umfassenden Komplex zum Thema Migration. Im Grundlagendossier findet man Daten, Fakten und Einschätzungen zum globalen Migrationsgeschehen. Besonders anschaulich sind auch zahlreiche Beiträge, die die verschiedenen Seiten des kontrovers diskutierten Themas beleuchten.
www.grenzenlos-frei.de
Diese Kunstwerkstatt für Flüchtlingskinder führt seit 1993 Ausstellungen, Theater-, Musik-, und Tanzaufführungen und gemeinsame Projekte mit anderen Kindern durch. Den Flüchtlingskindern und -jugendlichen wird so die Möglichkeit geboten, sich in einer weltumspannenden Sprache auszudrücken und die eigene Geschichte zu erzählen. Ein sehr inspirierendes Projekt, das für seine engagierte Arbeit zahlreiche Auszeichnungen bekommen hat.
Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 01-02/15 lesen.