Ein Plädoyer für das Recht des Kindes auf freies Spiel
»Achtung, ihr da unten, gleich schicke ich euch Blätter-Kanonen vom Baum«, ruft der fünfjährige Anton. Kinder sind voller Ideen und hinreißender Überraschungen. »Lass mich spielen!« ist ein Wunsch, ein Recht und ein Bedürfnis von Kindern nach Tätig-Sein und Ruhe. Das Spielen erlaubt ihnen für Entschleunigung zu sorgen. Sie haben die Fantasie-»Blätter« in »Kanonen« zu verwandeln. Verstehen wir das Bedürfnis der Kinder, Zeit zum Spielen zu brauchen? Und welche zentrale Bedeutung das Spiel hat für die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes?
Wer spielt, ist Mensch
Spielen ist ein Grundbedürfnis des Menschen. Oft allerdings zählt eher die Leistung. Man glaubt, Zeit geht beim Spielen verloren. Dennoch können Erwachsene staunen, dass Kinder beim Spielen hochkomplizierte Leistungen schaffen. Und wenn man selbst spielt, erlebt man eine andere Qualität von Zeit und Begegnung. Aus Sicht von Erwachsenen scheint das freie Spiel oft eine Nebensache zu sein. Der Wert und die Bedeutung des Spiels im Leben von Kinder werden leicht übersehen und kaum bewusst wahrgenommen. Digitale Medien bieten heute dafür Alternativen und Ersatz. Sie sind »sauber« und weniger störungsanfällig. Wenn Kinder vor den Medien sitzen, dann werden sie auf den ersten Blick ruhiger und hören auf, Erwachsenen Fragen zu stellen. Per Knopfdruck kann der Spielverlauf bestimmt werden, wer, was und wie gespielt wird.
»Klick« – das ist einfach. Jederzeit kann das Spiel unterbrochen, an- und ausgeschaltet werden, je nach Bedarf und Regeln. Doch das lebendige Spiel mit anderen Kindern und Erwachsenen ist ein ganz anderes Erlebnis. Vielleicht wünschen sich manche Kinder im Geheimen von Erwachsenen: Lass mich mit anderen meinen Freunden für ein paar Stunden das sein, was wir sind: Kinder, die etwas tun und Zeit haben!
Das »Putzen« von Fähigkeiten gehört zum Spiel
SchauspielerInnen benötigt die Kunst ihrer MitspielerInnen, um ihr Potenzial voll zur Entfaltung zu bringen. Ähnlich ist es in der Kita. Erziehende benötigen die Kunst der Kinder und auch das Kind die Kunst seiner MitspielerInnen, um sich zu entfalten. Denn das eigene Verhalten ihnen gegenüber sagt viel über es selbst aus. Seine Art wird sichtbar in der Wirkung, die es auf die MitspielerInnen ausübt. Diese Art (und Kunst), sich gegenseitig zu kreieren, ist im pädagogischen Denken und Sehen noch ungebräuchlich. Was tun Kinder, wenn sie miteinander spielen?
Mira und Susi sind beide vier Jahren alt. Sie spielen »Putzen«. »Wir müssen putzen. Den Tisch. Alle unsere Freunde kommen, sie haben mir geschrieben«, sagt Susi. »Du hast Pech«, meint Mira. Und Susi antwortet: »Das ist mir egal, man kann putzen mit Pech.« »Schön«, erwidert Mira, »wir müssen jetzt weiter, jetzt hier oben.« Susi hat den Besen in der Hand und ergänzt das Oben: »Die Steine sind dreckig.« Dann fragt Mira: »Kommen die später?« und meint ihre Freunde. »Ja!«, antworten Susi. »Weil wir ja länger brauchen«, versteht Mira. »Stimmt!«, antwortet Susi.
Das Menschliche zeigt sich in seinen Wandlungen. Das Spielen weckt eine Freude und Lust miteinander etwas zu entdecken. Der Sinn offenbart sich im Tun, zum Beispiel beim »Putzen« und Fegen mit dem Besen. Oder spielen die beiden »Putzen«, um die Tätigkeit des Putzens ohne Befehle und Regeln zu entdecken?
»Die Bäume auch«, sagt Mira und Mira fängt an, den Baumstamm mit dem Besen rauf und runter zu fegen, und erklärt: »Wir müssen mal ein bisschen putzen.« Susi folgt ihr mit dem Besen und geht zu einem anderen Baumstamm: »Es wurde lange nicht gefegt.« »Ja! – Ganz lange nicht von uns Pferden, von uns Einhörnern. Unsere Eltern sind gestorben und jetzt machen wir es schön, stimmt’s?«, meinte Mira. »Guck mal«, sagt Susi, »wir haben noch ganz schön viel zu schuften.« Mira antwortet: »Ich kann schon viel«, und Susi ergänzt: »Ich auch! So, machen es wir.«
Ihre Worte haben etwas Vorantreibendes und wenn wir dem Sinn der Worte erspürend nachgehen, entsteht die Szene in jedem Augenblick wieder neu. Als ZuschauerInnen und ZuhörerInnen können wir etwas von der schöpferischen Kraft der Kinder empfinden und genießen, und nicht etwas, dass jemand anderes ihnen vorgekaut hat. Das Eigene lebt in der Gegenwart. Das Beziehungsverhältnis zwischen den beiden Mädchen wird spürbar. Es ist geprägt von gegenseitigem Vertrauen und Respekt. Was eine sagt, ergänzt die andere.
Sie erzählen sich Erlebnisse und hören zu. So ist es bei Kindern, solange sie nicht gestört werden und ihr Tun nicht von entfremdeten Mustern überschattet ist. Im Einverständnis ihres Tuns hat jeder Ideen. Sie werden ausgetauscht und jeder kann Initiative ergreifen. Diese Botschaften werden nonverbal und verbal vermittelt. Das Lebendige im Austausch ist, dass man nicht weiß, was die anderen tun und sagen werden. Jeder reagiert im Moment, und gerade dadurch erleben sie einen Zusammenhalt. Die Sinne werden durch den differenzierten Gebrauch wahrnehmungsfähiger. Dieser Vorgang beschreibt den sozialen Prozess beim Spielen und zeigt auch die Dimension von Leiblichkeit und Ganzheitlichkeit in der Menschenrechtsbildung.
Körpersprache verstehen
Jeder Mensch, unabhängig von Herkunft, Geschlecht, Kultur und Sprache hat eine individuelle Körpersprache. Das wird einem dann bewusst, wenn man die Sprache in einem fremden Land nicht kennt und versteht. Man versucht mit Gesten, Blicken und Äußerungen eigene Bedürfnisse zu vermitteln, in der Hoffnung, dass die Fremden einen verstehen. Die Körpersprache ist eine Symbolsprache: Gesten und Bewegungen enthüllen das Unbewusste und Bewusste, die verschleierten Gefühle und Bedürfnisse des Menschen.
Im Spiel der Kinder kommt ihre Körpersprache zum Ausdruck. Sie wird sichtbar im Verhalten, in der Kooperationsbereitschaft, im Zuhören. Darauf reagieren die anderen mit konkreten Handlungen und Worten. Ihre Kompetenzen und Fähigkeiten, sich dem anderen mitteilen zu können, kommen deutlich zum Vorschein.
Wissen wir, was Kinder lernen und bereits wissen? In ihren Erzählweisen wird deutlich, was für feine Antennen sie haben. Es lässt vermuten, dass sie beim Zuhören und Wahrnehmen erkennen, was sie selbst tun wollen.
Im Dialog zwischen Mira und Susi wird zum Beispiel hör- und fühlbar, wie bedeutsam ihnen die Anerkennung und Wertschätzung ihrer Person ist.
Mein Anliegen ist es, dass man dem natürlichen kindlichen Spiel einen Bildungswert gibt und mit Achtung begegnet. Dass man ihm mehr Aufmerksamkeit im Alltag gibt, weil das Spiel für uns, als Erziehende, eine wichtige Erfahrungsquelle ist, Kinder zu verstehen. Spielen ist ein Teil der Realität, in der sich Kinder bewegen. Sie konstruieren darin ihre soziale Realität. Wenn man beobachtet, was sie tun und wie sie spielen, dann üben sie auf vielseitige Art und Weise ihre Fähigkeiten und Fertigkeiten, mit denen sie sich bereits jetzt als kompetent für ihren Alltag erweisen und die sie später als Erwachsene im Leben brauchen. In diesem Sinne sollten Erwachsene und die Gesellschaft das Spiel als einen Kulturbeitrag des Kindes anerkennen und wertschätzen. Die Kultur der Kinder entfaltet sich im Spiel und als Spiel. Darin zeigen sie im besonderem Maße, was sie als Mensch selbst gestaltend hervorbringen! Zugleich beschreiben Spielprozesse eine bestimmte Qualität von Lernprozessen. Diese brauchen Raum und Zeit.
Kontakt
E-Mail:
web: www.gerburgfuchs.de
www.spielundzukunft.de
Diese Webseite ist eine Fundgrube zum Thema. Bekannte PädagogInnen und PsycholgInnen erläutern wichtige Aspekte des Spiels und verschiedene Entwicklungen in den Kinderjahren. Dazu gibt es viele Anregungen in für Spiele von A bis Z und im Jahresverlauf.
www.gerald-huether.de
Der bekannten Hirnforscher Gerald Hüther beschreibt in seinen Texten eindrücklich, wie wichtig die sinnlichen Erfahrungen beim Spiel und in der Bewegung für die kindliche Entwicklung ist. Spiel ist Lernen und Lernen ist Spiel. Daran lässt er keinen Zweifel.
www.kita-fachtexte.de
Bei den Kita-Fachtexten gibt es verschiedene wissenschaftliche Texte über das Spiel, hier beispielsweise welche Rolle den Peers, den Gleichaltrigen, im Spiel in den frühen Jahren zukommt. Spielpartner können in ihren Aktivitäten Gemeinsamkeiten und Unterschiede entdecken, sich ge-genseitig unterstützen und Interessen miteinander aushandeln lernen. Damit die Kinder sich dabei nicht überfordern brauchen sie die Begleitung von Erwachsenen.
http://www.kita-fachtexte.de/texte-finden/detail/data/begleitung-von-kooperation-und-spiel-null-bis-dreijaehriger/
Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 11-12/14 lesen.