Die Hirnforschung hat Säuglinge und Kleinkinder zu erstaunlich cleveren Entdeckern in Windeln erklärt. Jetzt fürchten Eltern, schon bei den Kleinsten wichtige Startchancen zu verpassen. Die Autorin Susanne Weingarten ist dem Phänomen nachgegangen.
Die kleine Ella Shrotri sitzt mit einer Lehrerin am Tisch, die ihr die Hand führt. »Ein Kreis, dann nach unten«, erklärt sie Ella, wie man ein kleines »a« schreibt. »Nächstes Mal üben wir es wieder.«
Es ist Ellas dritter Besuch bei »Kumon«, einem aus Japan stammenden Lernprogramm, auch schon für Kinder im Vorschulalter, das es inzwischen in mehr als 40 Ländern gibt. Ellas Eltern möchten ihr einen guten schulischen Start ermöglichen, und »Kumon« verspricht auf seiner deutschsprachigen Website: »Wir machen Ihr Kind fit für die Zukunft.« Ella Shrotri ist noch keine drei Jahre alt.
Lange galten Babys und Kleinstkinder als Wesen, die nicht viel wissen und noch weniger können. Sie schlafen, nuckeln, brabbeln, schreien, pinkeln und strampeln halt, eine Art lebendiges Gemüse, und irgendwann lernen sie laufen und sprechen. Doch gerade die Hirnforschung hat dieses Bild in den vergangenen drei Jahrzehnten komplett revidiert. Jetzt ist vom »kompetenten Säugling und vom »Forschergeist in Windeln« (so einschlägige Buchtitel) die Rede, und die ersten drei Lebensjahre des Menschen gehören zu den wichtigsten überhaupt: das Fundament für späteres Glück, Können und Erfolg im Leben.
»Diese Jahre sind im buchstäblichen Sinne prägend«, sagt die Entwicklungspsychologin Fabienne Becker-Stoll, die das bayerische Staatsinstitut für Frühpädagogik leitet, »denn die Erfahrungen, die ein Kind dann macht, bestimmen die Ausformung seines Gehirns.«
Für Eltern können die Erkenntnisse über die erstaunlichen Fähigkeiten und rasanten Lernprozesse ihres Nachwuchses beglückend sein. Was, das Kleine begreift im Gitterbettchen schon Grundlagen der Physik? Vermag Sprachen zu unterscheiden? Weiß Lebewesen zu kategorisieren? »Ich glaube, dass die Informationen, die Eltern jetzt über das Wissen ihrer Kinder haben, ihre Haltung verändern«, sagt die Heidelberger Entwicklungspsychologin Sabina Pauen. »Es geht nicht nur darum, die Grundbedürfnisse zu befriedigen, sondern den Kindern Anreize zum Lernen zu geben.«
Genau darum können die Forschungsergebnisse aber auch zu heftigem Stress für die Eltern führen. Wenn die ersten drei Jahre entscheidend sind, können sie nicht dann schon den Sprössling fürs Leben vermurksen? »Eltern haben die Riesenangst, etwas zu verpassen; sie wollen alles richtig machen«, sagt der Braunschweiger Hirnforscher Martin Korte, »die Erwartungshaltung an die Förderung von Kindern ist gewaltig gestiegen.«
Richtig ist: In den ersten Lebensjahren passiert unglaublich viel an Gehirnentwicklung. Babys werden mit rund hundert Milliarden Nervenzellen geboren, in etwa der gleichen Anzahl, die auch ein Erwachsener hat. Gibt es anfangs noch wenige Kontaktstellen (Synapsen) zwischen diesen Zellen, so vernetzt sich das Gehirn im Laufe der Säuglings- und Kleinkindzeit unerhört schnell. Mit zwei Jahren haben die Kleinen genauso viele Synapsen wie ein Großer, nämlich hundert Billionen, mit drei Jahren dann mindestens doppelt so viele.
Diese Überproduktion von Kontaktstellen im Hirn ermöglicht es den Lebensanfängern, sich auf alle erdenklichen Situationen einzustellen - anfangs etwa sind Kleinkinder in der Lage, Laute in allen Sprachen korrekt nachzusprechen. Im Laufe der Zeit aber werden häufig benutzte neuronale Verbindungen verstärkt, andere werden abgebaut. Sprich: Oft Erlebtes wird gelernt, es schleift sich als Erinnerungsspur in die Gehirnstrukturen ein; Irrelevantes dagegen wird gelöscht. Das Hirn nimmt Strukturen an. So verlieren Kinder auch das Potential zur »Allsprachigkeit«, denn sie brauchen ja im Regelfall nur ein bis zwei Sprachen in ihrem Lebensumfeld.
Unterschiedliche Bereiche des Gehirns sind dabei in unterschiedlichen Phasen des kindlichen Reifeprozesses besonders aktiv, so dass die Lernfähigkeit in diesen Entwicklungsfenstern außerordentlich groß ist. Wer etwa eine zweite Sprache nicht vor dem Schulalter lernt, der wird sie kaum je ohne Akzent sprechen können, weil die kritische Phase für die Sprachaneignung verstrichen ist. Generell gilt: »Je vielfältiger und breiter die in der Kindheit ausgeprägte Struktur des Gehirns ist, umso mehr Bereiche gibt es, in denen der Jugendliche oder Erwachsene Fortschritte machen kann«, so der bayerische Frühpädagoge Martin Textor.
www.bildungsserver.de
Der Bildungsserver versteht sich als zentraler Wegweiser zum Bildungssystem in Deutschland. Sein weites Themenspektrum lädt zu ausführlichen Recherchen ein.
www.familienhandbuch.de
Auf dieser Seite bekommt man Antworten auf Fragen rund um den Familienalltag. Die kindliche Entwicklung ist hier ein Schwerpunkt.
www.kindergartenpaedagogik.de
Ein Online-Handbuch, das üppiger mit Informationen nicht gefüllt sein könnte. Es ist vor allem für Fachkräfte im Kindergarten geeignet. Zum Thema frühkindliche Entwicklung findet man zahlreiche Fachtexte.
www.bertelsmann-stiftung.de
Die Webseite der Bertelsmannstiftung bietet umfassende Informationen zu verschiedenen Themen ihrer Stiftungsarbeit. Im Bereich Bildung sind aktuelle Artikel zum Thema frühkindliche Bildung zusammengetragen.
Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 10/14 lesen.