Überlegungen und Impressionen aus Offenbacher Kindertagesstätten, aufgeschrieben von Dr. Salman Ansari
Die Prozesse des Lernens wurden und werden leider immer noch als Reproduktion von Wissen erachtet, die dem Erhalt eines sozialen und kulturellen Systems dienlich ist. Die rapiden sozialen und kulturellen gesellschaftlichen Umwälzungen haben jedoch inzwischen solch eine Dynamik angenommen, dass es nicht mehr ausreicht, lediglich das Erworbene oder Ererbte zu erhalten.
Vielmehr gilt es, Menschen auszubilden, die in der Lage sind, sich schnell auf die Veränderungen einzustellen, und somit die Zukunft gestalten können, statt von der Dynamik der Veränderungen überwältigt zu werden.
In keinem Alter ist die Bereitschaft, Neues anzunehmen und es sich anzuverwandeln, so ausgeprägt wie in der Kindheit. Die kognitiven Wissenschaften und die Hirnforschung belegen eindruckvoll, dass das kindliche Gehirn enorm flexibel und formbar ist. Diese Flexibilität offenbart sich in der ausgeprägten Disposition der Kinder, schnell zu lernen, unbefangen zu handeln und somit ein vielfältiges Vorstellungsvermögen zu entfalten. Die Besonderheit der Kindheit besteht darin, dass sich das Vorstellungs- und Fantasievermögen – und damit einhergehend das Lernen – nur in dieser Lebensphase ungehemmt fortentwickeln können. Die Frage ist allerdings, welche alltäglichen Lernumgebungen und Welterfahrungen den Kindern zugänglich sind.
In der deutschen Sprache unterscheidet man zwischen Realität und Wirklichkeit. Jede obwaltende Wirklichkeit trägt den Keim der Veränderung in sich. Jede Wirklichkeit ist somit eine von vielen vorstellbaren Möglichkeiten, die Welt zu erfinden und zu gestalten. Kinder können sich unendlich viele Wirklichkeiten vorstellen. Ihre Entwicklung ist gekennzeichnet von einem ständigen Wechsel der Perspektive.
Auch die Natur ist einer fortwährenden evolutionären Veränderung unterworfen. Doch im Gegensatz zur Natur sind Kinder auf die Hilfe und Anregung der Erwachsenen angewiesen, um sich ihren Anlagen entsprechend zu entwickeln – und Entwicklung bedeutet Veränderung.
In den Kitas der Stadt Offenbach bilden Kinder aus fremden Kulturen die Mehrheit. Weil Heterogenität eine wundervolle Erfindung der Natur ist, sind alle Menschen verschieden – unabhängig von ihrer kulturellen Identität.
Auch in Offenbach muss man mit Eltern und Kindern kommunizieren, die verschiedene Sprachen sprechen und sich naturgemäß mit ihrer jeweiligen kulturellen Zugehörigkeit identifizieren. Die Erzieherinnen sind bemüht, jeden Tag mit ungewöhnlichen Situationen fertig zu werden und Probleme zu bewältigen, die sie vor neue Aufgaben stellen. Oft geschieht etwas Unvorhersehbares. In keinem Beruf muss man vermutlich so flexibel und wandlungsfähig sein wie in diesem.
In Offenbach gibt es Kitas, die von mehr als neunzig Prozent nicht deutschsprachiger Kinder besucht werden. Auch Kinder, die deutsch sprechen, haben erstaunlich wenig sprachliche Kompetenzen. All dies stellt die Kita-Teams vor eine besondere Herausforderung.
Damit sich Kinder aus aller Welt in den Offenbacher Kitas mit Empathie angenommen, aufgehoben und gefordert fühlen können, hat der Eigenbetrieb der Stadt Offenbach ein Qualifizierungskonzept für das pädagogische Personal seiner Kitas entworfen, das aus meiner Sicht in der deutschen Bildungslandschaft einzigartig ist. Das Fundament des Konzepts bilden zehn Bausteine, deren Umsetzung von erfahren Pädagogen, Psychologen und Wissenschaftlern betreut wird.
Sie lauten:
- Dialogische Entwicklungsförderung – Kindbeobachtung
- Kindliche Entwicklung und Sozialisation
- Lernprozesse – Wie lernen Kinder? Der Bildungsprozess im Elementarbereich
- Gruppenprozesse: Selbstbildungsprozesse in Kindergruppen
- Vorurteilsbewusste Erziehung
- Arbeit mit Eltern, wenn der Umgang schwierig wird
- Der Raum als dritte pädagogische Kraft
- Literacy und Sprache
- Naturwissenschaften – Das Kind als Forscher
- Pädagogik des kreativen und künstlerischen Gestaltens
Jedes sinnvolle Lernen ist eine Brücke zum Erwerb weiterer Erkenntnisse
Kinder sind bereit, alles zu lernen. Auch jeden Unsinn, denn sie sind nicht in der Lage, auszuwählen, also zu beurteilen, ob ein Lernangebot für ihre geistige und seelische Entwicklung sinnvoll ist. Aus diesem Grund haben die Kita-Teams eine besondere Verantwortung, wenn es darum geht, den Alltag der Kitas zu strukturieren und sie in eine Lernumgebung zu verwandeln, die Kinder in ihrer natürlichen Entwicklung unterstützt, ihre individuellen Anlagen erkennt und sie mit geeigneten Maßnahmen fordert.
Im Rahmen des Bausteins »Naturwissenschaften« versuche ich, Konzepte zu entwickeln, die Kinder auf der Grundlage kommunikativer Prozesse befähigen, ihre Selbstständigkeit, ihr Selbstbewusstsein oder Selbstwertgefühl zu steigern und sich somit Kompetenzen anzueignen, die nicht nur kreativ sind, sondern ihnen auch helfen zu entdecken, was in ihren Köpfen steckt.
Was heißt Kreativität? Kreativ ist jemand, der in der Lage ist, originelle Ideen zu generieren. Muss man einen hohen IQ aufweisen, um kreativ zu sein? Die Forschung zeigt, dass dies nicht der Fall ist. Die Intelligenzquote und die Fähigkeit, kreativ zu handeln, haben wenig gemeinsam. Kinder mit hohem IQ und einem sehr guten Gedächtnis können häufig keine originellen Ideen generieren. Tatsache ist jedoch, dass alle Kinder in ihrer individuellen Art und Weise, unabhängig von ihrer Herkunft, Muttersprache und kulturellen Zugehörigkeit kreativ sein können. Allerdings brauchen sie von Anfang an stimulierende Anlässe und Herausforderungen, um erfinderisch zu handeln. Was hindert die Erzieherinnen und Pädagogen, das selbstverständlich zu ermöglichen?
www.bertelsmannkritik.de
Die Stichworte »Akademisierung der Kindheit« und »Frühförderung« lassen viele Frühpädagoginnen und -pädagogen an große Stiftungen, Vereine und Verbände denken, die in den letzten Jahren auf diesem Feld aktiv wurden. Eine andere Perspektive – abseits der Hochglanzbroschüren – auf eine dieser Stiftungen wirft diese Kampagne, die natürlich auch netzkritisch betrachtet werden sollte.
www.win-future.de
Ein Wissenschaftliches Interdisziplinäres Netzwerk für Entwicklungs- und Bildungsforschung, das eine Verbindung zwischen Wissenschaft und Praxis herstellen möchte. Es wendet sich an Eltern, Erzieherinnen und Therapeuten, die nach praktisch umsetzbaren Möglichkeiten der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen suchen.
www.lernwelt.at
Eine spannende Reise entführt Sie in die faszinierende Welt Ihres Kopfes. Auf diesen Seiten entdecken Sie Interessantes über das Gehirn.
www.kinder-lobby.at
Durch intensive Medien- und Informationsarbeit will die Kinder-Lobby das gesellschaftliche Bewusstsein dafür schärfen, was Kinder für ihre gesunde Entwicklung brauchen. Es geht um Prävention, die im besten Fall bewirkt, dass viele der genannten Defizite gar nicht erst entstehen.
Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 03/12 lesen.