Licht und Schatten in der Reggiopädagogik
Zwar gilt das Atelier als fester Bestandteil reggianischer Einrichtungen weitgehend als bekannt, die konzeptionellen Hintergründe der Atelierarbeit sind in der deutschen Rezeption aber erst in Teilen erschlossen. Deshalb skizziert Prof. Dr. Axel Jansa in einem zweiteiligen Beitrag den Rahmen der Atelierarbeit, die konzeptionellen Begründungsstränge und die praktische Ausgestaltung.
Er lenkt den Blick auch auf offene Fragen und argumentative Bruchstellen. Die Leistungen der Reggiopädagogik anerkennend, sucht er den Dialog mit den Vertreterinnen und Vertretern in Italien und will dazu anregen, deren Impulse zu diskutieren und weiterzudenken. Damit knüpft er an andere Veröffentlichungen an, die sich mit einzelnen Elementen und Entwicklungen reggianischer Pädagogik fragend, ergründend und rekonstruierend auseinandersetzen1.
In der folgenden Darstellung stütze ich mich auf die konzeptionellen Grundlagen der Reggianer, greife auf Analysen und Darstellungen von außen zurück und beziehe eigene Beobachtungen vor Ort ein. Zunächst beschreibe ich das Postulat der 100 Sprachen als Ausgangspunkt des Atelierkonzepts und nehme eine Einschätzung seiner Reichweite vor. Darauf aufbauend, stelle ich Konzept, Merkmale und Ausstattung des Ateliers sowie das Selbstverständnis und die Aufgaben der Atelierista dar. Im letzten Teil2 greife ich die Bedeutung der Arbeit mit Licht und Schatten exemplarisch aus der reggianischen Atelierpraxis heraus, skizziere das Experimentier- und Erkenntnisspektrum in diesem Bereich und schätze es ein.
1. Das Postulat der 100 Sprachen als Ausgangspunkt des Atelierkonzepts
Eine der leitenden Überzeugungen des reggianisches Bildes vom Kind ist die Metapher von den »100 Sprachen der Kinder«. In diesem Kapitel gehe ich den Fragen nach, welche Sinne angesprochen werden, mit welchen Sprachen gearbeitet wird und wie sich dieses Ästhetikverständnis im Atelier konkretisiert.
100 Sprachen als Metapher
Folgt man der These, dass sich der Reichtum im Umgang mit der Welt über die Vielfalt von Werkzeugen und Ausdrucksmöglichkeiten erschließt, und begreift man Ästhetik als auf alle sinnlichen Wahrnehmungen bezogene Leitfunktion »im Sinne einer wahrnehmenden Ordnung der Wirklichkeit«3, ergibt sich daraus die Vorstellung vom Atelier als Ort konzentrierter ästhetischer Erfahrung, als Werkstatt der 100 Sprachen und Ausdrucksformen. Dass es dabei nicht um ein Nebeneinander möglichst vieler Sprachen geht, sondern um die Vernetzung verschiedenster Zugänge zur Welt, erklärt Gunilla Dahlberg. Sie hebt hervor, dass die Metapher von den 100 Sprachen auf die vielfachen »Quellen des Wissens, der Beziehungen und Zusammenhänge« hinweist, auf eine Logik, die die »allgemeine Idee der Multidisziplinarität« herausfordert.4
Eine entscheidende Eingrenzung erfährt diese Multidisziplinariät durch Carla Rinaldi und Peter Moss, die schreiben: »Malaguzzis Hinweis auf die ›hundert Sprachen der Kinder‹ hat Reggio dazu inspiriert, Ateliers (Werkstätten) zu entwickeln, in denen einige visuelle Sprachen (Ausdrucksformen) als Teil des komplexen Aufbaus von Wissen eingesetzt werden«5. Eine Begründung für die Eingrenzung der Sprachen wird an dieser Stelle nicht gegeben. Das unternimmt die langjährige Atelierista der Scuola Diana, Vea Vecchi, die sich in der Entscheidung für die Arbeit mit den visuellen/künstlerischen Ausdrucksformen auf Gregory Bateson beruft. Sie greift dessen Ansatz »der Bedeutung der ästhetischen Herangehensweise als Methode, die Verbindungen zwischen den Elementen der Realität herstellt«, auf. Wenngleich Bateson den Ästhetik-Begriff im weiteren Sinne – auf den sich auch Schäfer bezieht – versteht, nutzt Vecchi den Ansatz, um damit ein »Künstlerisches Denken« zu definieren, das sie als eine Methode versteht, die helfen kann, »die verborgenen Strukturen hinter der Realität zu entdecken und ein Netz zu flechten, das fähig ist, Prozesse der Logik und der Gefühle, der Technik und des Ausdrucks zusammenzuführen«. Sie begründet die Einführung der Ateliers Ende der 1960er Jahre damit, dass sie als Gegenmodell zur Schulkultur, in der die »so genannten expressiven Ausdrucksweisen benachteiligt« worden seien, konzipiert waren. Zu benachteiligten Ausdrucksformen rechnet sie »visuelle Ausdrucksweisen, Musik, Poesie, Tanz, usw.«. Vor dem Hintergrund dieser Einschätzung sei es mit der Einführung der Ateliers darum gegangen, »die Komplexität der Wissensaneignung zu verteidigen«6. Klar ist für Vecchi aber auch, dass die Entscheidung für die visuelle Ausdrucksweise in den Ateliers keine im Sinne einer separaten Disziplin war: »Die visuelle Sprache wurde eher als ein Mittel gewählt, Brücken und Beziehungen zwischen verschiedenen Erfahrungen und Ausdrucksweisen zu bauen.« Damit schien die visuelle Sprache als Leitsprache etabliert.
Die Notwendigkeit einer Basissprache im Atelier begründet Vecchi damit, »dass man, um sich in einer ›Sprache‹ kompetent zu äußern, eine spezifische und gründliche Ausbildung braucht« und »dass eine Ausdrucksweise, die wirklich erlernt und verfeinert worden ist, auch gerüstet sein muss, Verbindung zu anderen Ausdrucksweisen oder Sprachen aufzunehmen«7. Dass diese Basissprache eine künstlerische ist, scheint sich, da Vecchi Künstlerin bzw. Kunstpädagogin ist, von selbst zu ergeben.
Eine weitere Fokussierung erfolgt bei den visuell-künst-lerischen Sprachen: auf die Ausdrucksform des Zeichnens. An späterer Stelle gehe ich auf die Begründungen ein.
Das theoretische Spektrum der Sprachen öffnet Vecchi in anderem Zusammenhang, indem sie auf den ursprünglichen Ansatz von Malaguzzi hinweist, auf »das Bewusstsein von der grundlegenden Bedeutung der Poetik und Ästhetik, das Wissen darüber, wie Poetik und Ästhetik alle Sprachen erfassen. Zentral ist dabei das Bewusstsein ihrer Bedeutung für die Verbindung von Denkprozessen«. Explizit sind dies die »poetischen Sprachen wie die Bildende Kunst, der Tanz, die Musik, Poesie, Literatur, Architektur, Design, (die) die Vernunft, das Imaginäre und Emotionale zusammenbringen und ein reicheres, umfassenderes Lernen ermöglichen«8.
1 So Doris Breuer in dem Beitrag »Neue Projektformen in Reggio«, veröffentlicht in »Betrifft KINDER«, Heft 7/2007. Darin legt die Autorin unter anderem dar, dass nicht alle Projekte von den Themen der Kinder ausgehen, und dass die reggianische Praxis auch instruktivistische Anteile aufweist.
2 Dieser Teil erscheint in Heft 1-2/12.
3 Vgl. Schäfer 2006, S. 185, und seine weitergehenden Ausführungen dazu, sowie Schäfer 2005, S. 117-127
4 Dahlberg 2004, S. 22
5 Moss/Rinaldi 2004, S. 3
6 Vecchi 2004, S. 19
7 Vecchi 2004, S. 19
8 Vecchi 2008, S. 16f.
Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 11-12/11 lesen.