Sprachliche Bildung und Förderung für Kinder unter Drei
Wie kommen die Jüngsten zur Sprache? Und wie können pädagogische Fachkräfte die sprachliche Entwicklung der Null- bis Dreijährigen im Alltag systematisch begleiten?
Karin Jampert, Verena Thanner, Diana Schattel, Andrea Sens, Anne Zehnbauer, Petra Best und Mechthild Laier legen in ihrer neuesten Veröffentlichung (siehe auch S. 12) ein Konzept zur alltagsintegrierten sprachlichen Bildung und Begleitung für die Altersgruppe der Null- bis Dreijährigen. In diesem Beitrag stellen sie die Prinzipien des Konzepts vor.
Eine der spannendsten Entwicklungen, die wir in der Kita beobachten können, ist der faszinierende und lang andauernde Prozess, in dem sich Kleinkinder allmählich der Sprache bemächtigen. Sie eignen sich in den ersten drei Lebensjahren ihre Umgebungssprache so gut an, dass sie in der Lage sind, ihre Wünsche zu formulieren und von anderen geäußerte Bedürfnisse zu verstehen. Sie können den Alltag sowie ihre Spiele mit anderen Kindern sprachlich organisieren und gestalten.
Sie können anderen von ihren Erlebnissen und Erfahrungen berichten und hören gern zu, wenn jemand Geschichten erzählt. Nun könnte man sagen: Das ist doch ganz normal! Aber überlegen Sie nur einmal, wie es uns Erwachsenen geht, wenn wir versuchen, eine Fremdsprache zu erlernen. Denken Sie an Sprachen wie Chinesisch oder Arabisch, bei denen uns unser erstsprachliches Vorwissen überhaupt nicht weiterhilft. Zunächst müssen wir lernen, ganz neue Laute wahrzunehmen, bevor wir uns an die mühsame Produktion heranwagen. Beim Aufbau des Wortschatzes machen wir die Erfahrung, dass Wörter, kaum haben wir sie erfolgreich eintrainiert, in der nächsten Woche schon wieder aus dem Gedächtnis verschwunden sind. Und die Anwendung der grammatischen Regeln gelingt uns zwar prima im Sprachunterricht, aber im Ernstfall, wenn es darauf ankommt, ist die Situation schon längst vorbei, bevor es uns gelingt, auch nur einen Satz zu formulieren.
Der Erstsprach(en)erwerb ist ein besonderer Lernprozess
Auch wenn Kleinkinder vor ähnlichen Herausforderungen stehen, scheinen sie beim Erwerb ihrer ersten Sprache oder Sprachen mit keiner unserer Schwierigkeiten zu kämpfen zu haben.
Woran liegt das? Die Wissenschaft weist darauf hin, dass der frühe Spracherwerb ein impliziter Lernprozess ist. Das bedeutet: Kinder verfolgen nicht bewusst das Ziel, sich die Sprache/n ihrer Umgebung anzueignen. Vielmehr lernen sie ihre erste/n Sprache/n nebenbei, was allerdings nicht bedeutet, dass es von allein geschieht. Es handelt sich um einen aktiven Lernprozess, bei dem Kind und Bezugspersonen engagiert tätig sind.
Sprachliche Fähigkeiten von Kindern entwickeln sich in Verbindung mit ihren Wahrnehmungen und Beziehungen und im Rahmen ihres Tätigseins. Wenn Kinder aufmerksam und konzentriert etwas beobachten, wenn sie mit offenen Ohren hinhören, wenn sie emotional berührt sind oder engagiert und leidenschaftlich agieren, dann sind sie auch sprachlich aktiv. In solchen Situationen bringen sie sich mit ihren »100 Sprachen« ein und sind aufnahmebereit für die sprachlichen Botschaften ihrer Umgebung.
Der Erwerb von mehreren Erstsprachen
Die Besonderheit des ersten Spracherwerbs besteht darin, dass er eng verzahnt ist mit sozialen, motorischen und geis-tigen Entwicklungsprozessen. Und dies kennzeichnet nicht nur den Spracherwerb von einsprachigen, sondern auch von mehrsprachigen Kindern. Wenn Kinder in ihren ersten Lebensjahren mit zwei oder auch mehreren Sprachen aufwachsen, dann erwerben sie alle ihre ersten Sprachen auf beiläufige und ganzheitliche Art und Weise, aber dennoch in einem intensiven Erwerbsprozess. Deshalb ist es sinnvoll, diesen sprachlichen Lernprozess als Erstspracherwerb zu bezeichnen. Von einem Zweitspracherwerb spricht die Wissenschaft, wenn sich ältere Kinder – auf der Grundlage einer bereits gefestigten ersten Sprache – eine weitere Sprache aneignen.
Der Erstspracherwerb ist ein langfristiger und komplexer Lernprozess
Beim frühkindlichen Spracherwerb haben wir es mit einem ausgesprochen komplexen und lang andauernden Lernprozess zu tun. Auch wenn in den ersten drei Lebensjahren entscheidende Schritte im Spracherwerb erfolgen, müssen wir uns klarmachen, dass der ganz normale Erstspracherwerb mit drei Jahren noch lange nicht abgeschlossen ist, sich vielmehr bis weit ins Schulalter hinein erstreckt. Das bedeutet zunächst einmal, Kinder brauchen ausreichend Zeit dafür, und die Bezugspersonen müssen dazu bereit sein, sich dem Rhythmus der Kinder im sprachlichen Lernprozess anzupassen.
Das klingt vielleicht banal, erfordert aber großes Fachwissen und viel Handlungskompetenz, wenn es um eine professionelle Sprachbegleitung der Kinder geht. Wir wissen aus eigener Erfahrung beim Sprachenlernen: Wir verstehen viel mehr als wir selbst zum Ausdruck bringen können. Nicht anders ist es bei den Kindern. Ihr Sprachverständnis und ihr passives Sprachvermögen sind viel weiter fortgeschritten als das, was sie spontan und selbstständig mit Sprache zum Ausdruck bringen können. Deshalb profitieren sie davon, wenn wir nicht nur ihre Äußerungen spiegeln, sondern ihnen sprachlich auf dem Niveau ihres Verstehens begegnen, das dem der nächsten Schritte ihrer sprachlichen Produktionen entspricht.
Strategien der Kinder beim Erstsprachenerwerb
Bei der Beobachtung der Sprache der Kinder ist es entscheidend zu erkennen, welche Strategien sie einsetzen. Denn mit diesen Strategien gelingt es Kindern, die komplexe Umgebungssprache an ihre sprachlichen Möglichkeiten anzupassen. So vollziehen sie ihre sprachlichen Lernfortschritte. Aus der »Banane« wird zum Beispiel ganz einfach die »Nane«. Die Kinder verändern nach dem Prinzip »Nicht zu viel auf einmal« Laute, Wörter, Sätze und sprachliche Regeln. Außerdem verständigen sie sich zunächst vor allem über Gestik und Mimik.
Fachkräfte sollten auch erkennen, für welche sprachlichen Aspekte Kinder in einer bestimmten Phase sensibel sind. Ob sie zum Beispiel gerade begeistert ihren Wortschatz rund ums Auto erweitern und entdecken, dass es neben dem »Audo« auch noch den »Dador« (Traktor) gibt oder sich mit den persönlichen Fürwörtern und der schwierigen Unterscheidung von »mir« und »mich« abmühen.
Der kindliche Spracherwerb vollzieht sich nicht als ein gleichmäßig ablaufender und kontinuierlicher Aufbauprozess. Fortschritte können mitunter auf den ersten Blick wie Rückschritte aussehen, wenn Kinder zum Beispiel von neu entdeckten Regeln großzügig Gebrauch machen und aus »hab gegessen« plötzlich wieder »geesst« wird. Aus all diesen Gründen ist es für die Bezugspersonen der Kinder wichtig, aufmerksam zu werden für die Zwischenschritte und individuellen Verläufe des Spracherwerbs.
Eine zentrale Strategie von Kindern ist die Nachahmung. Kinder sind beim Spracherwerb – wie in ihrer Entwicklung insgesamt – aufmerksame Beobachter und Beobachterinnen und versuchen das, was sie bei anderen sehen und hören, selbst auszuprobieren. Die Strategie der Nachahmung können wir beim Lauterwerb, beim Worterwerb, bei der Übernahme von Satzteilen, von Gestik und Mimik ebenso wie beim Nachspielen von vertrauten Situationen gut beobachten. So kommt es vor, dass wir Wörter oder komplexe sprachliche Formulierungen hören, die die Kinder von sich aus spontan eigentlich noch nicht produzieren können. Wichtig für die Anwendung der Nachahmungsstrategie ist für sie zunächst der intime Dialog mit einer vertrauten Bezugsperson, aber bald auch die Beobachtung des sprachlichen Agierens anderer Kinder. Kinder profitieren beim Spracherwerb nicht nur vom Imitieren, sondern ebenfalls davon, dass ihre Bezugspersonen das aufgreifen und wiederholen, was die Kinder produzieren. Aus der Forschung wissen wir, dass der Nachahmungsprozess wechselseitig verläuft.
Auch die erwachsenen Dialogpartner greifen die nonverbalen und verbalen Äußerungen der Kinder auf und spiegeln sie. Dabei erleben Kinder ihre Äußerungen als variantenreiches Echo beim Gegenüber, sehen und hören, was sie selbst produziert haben und entdecken sich als Verursacher des sprachlichen Handelns ihres Gesprächspartners.
Insgesamt zeigen Kinder ein breites Spektrum an sprachlichen Lernstrategien. Dazu gehören
- intensives Beobachten und Zuhören,
- physisches Erproben und Erfühlen beim Experimentieren mit Stimme und Lautproduktion,
- die Verbindung von nonverbalen mit verbalen Ausdrucksmitteln,
- häufiges Wiederholen und Imitieren,
- kreatives Variieren und Ausprobieren,
- die Wirkungen von Sprache auf andere zu erproben und natürlich
-
sprachliche Regeln zu entdecken und unermüdlich anzuwenden und zu erproben.
Petra Best · Mechthild Laier · Karin Jampert
Andrea Sens · Kerstin Leuckefeld
Herausgegeben von der Baden-Württemberg Stiftung
Dialoge mit Kindern führen
168 Seiten mit vielen Fotos und Illustrationen, Beiheft 24 Seiten
ISBN 978-3-86892-051-2
Preis: 19,90 €
Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 08-09/11 lesen.