Sauber herausgeputzte Fachwerkhäuser, großzügige Doppelgaragen, ab und zu ein knatterndes Landfahrzeug: Die heutige Recherche verschlägt mich in den Norden Bayerns, dicht an die Grenze zu Thüringen. Ministerialdirigent Dr. Schnarzlhuber vom bayrischen Staatsministerium für Bildung, Jugend, Wissenschaft und Frauen ist mein redseliger Begleiter und brennt schon darauf, mir eine seiner innovativsten Einrichtungen zu zeigen. »Doa weans Augen mochn«, kündigt er an, während die dunkelblaue Dienstlimousine sanft vor einem schmucken Neubau am Ortsrand stoppt, über dessen holzgetäfelter Eingangstüre ein Schild prangt: »Pastor Sebaldus Potzenrieder« – Erste bayerische Schnellläufer-Kindertagesstätte.
»Klingt noch a bisserl holprig«, gibt Schnarzlhuber zu. »Im Ministerium so-agn wir ollaweil nur Ka Zwoa. So wie Ge-Oacht.«
»Ach, das G8-Gymnasium. Heißt das, die Kinder besuchen die Einrichtung nur…?«
»Ganz recht: zwoa Jahre. Wanns net scho’ noch oam schulreif san.«
Zu meiner Erleichterung vervollständigt Schnarzlhuber seine Ausführungen in perfektem Hochdeutsch: »Angesichts der Verkürzung der Regelstudienzeiten und der Schulzeit wäre es Hohn, wenn die Kita außen vor bliebe. K2 zieht die erforderlichen Konsequenzen: Wir haben den Stoff für die Kitazeit so gerafft, dass sie längstens zwei Jahre braucht. Dann sind die Kinder gerade viereinhalb, wenn sie eingeschult werden. Gemma eini?«
Dr. Schnarzlhuber legt mir die Hand auf die Schulter und geleitet mich ins Innere des Hauses, wo mich eine freundliche Frau in modischer Designerkittelschürze begrüßt, die Leiterin des Hauses, die von Jung und Alt »unser Traudl« genannt wird.
Ein wenig hat die Entscheidung für die Entwicklung zur ersten Schnellläufer-Kita schon damit zu tun, sagt Traudl, dass gleich am Ortsrand von Knödelreuth die Landesgrenze verläuft, hinter der sich die ersten Doppelgaragen des thüringischen Dorfes Klößroda abzeichnen. Seit Jahren befände man sich mit denen von »drüben«, die Leiterin zwinkert mir zu, in einem Wettstreit über die bessere und zügigere Bildungsarbeit. Schließlich wolle man verhindern, dass Eltern irgendwann die Seite wechseln, nur weil die Kinder im Thüringer Kindergarten schon längst Schleife binden, Guten Tag sagen und sich den Popo wischen können, während ihre bayerischen Altersgenossen noch nicht mal »allein Buntpapier auf ihre Laternen kleben können«. Traudl blickt unsicher zu ihrem zweitobersten Dienstherrn auf.
»So is dös halt«, ergänzt der leutselig. »Unserem Vorhaben, mindestens ein Jahr schneller als die kleinen Kinder aus den anderen Bundesländern zur Einschulung zu gelangen, haftete anfangs etwas Wagemutiges an. Allein schon die Fülle des zu bewältigenden Stoffes mal im Vergleich zwischen hier und drüben: Der Thüringer Bildungsplan umfasst 172 Seiten, und die gelten für zehn Lebensjahre! Oder Niedersachsen: Nur 60 Seiten! Unserer hier«, der Ministerialdirigent wiegt ein telefonbuchgroßes Pamphlet auf seiner Hand, »enthält satte 848 Seiten Bildung. Das in zwei Jahren zu schaffen – eine Aufgabe wie für Herkules, was? Wie weit seids ihr grad, Fräulein Traudl?«
Die Angesprochene berichtet stolz, mit der Gruppe der älteren Kinder bald die Seite 600 erreicht zu haben – vorfristig!
Schnarzlhuber erklärt die Anfänge des Projekts: »Der wichtigste Schritt war, die Einrichtung in leistungsorientierte Gruppen einzuteilen. Dös können mir in Bayern gut! Nach dem sogenannten Hamburger Modell – von diesem Volksbegehren da – haben wir einfach einen gymnasialen Zweig von der – sagen wir amoi Hauptkita – abgeteilt. Die einen werden im Haus der kleinen Forscher bilingual unterrichtet. Und die Depperten – gell, dös schreibns net – hoams eben dös Freispiel.«
Apropos Freispiel: Hinten in der Bauecke fühlen sich gerade zwei junge Lerner so »frei«, die Aufgabe des Steinestapelns zugunsten anarchischen Freispiels zu ignorieren. Das fällt schnell auf. »Korbinian, Seppl!« ruft Praktikant Karl-Theo sie zur Ordnung und seufzt: »Das Schlimme ist – die wissen gar net, wie sie sich damit die Zukunft vermasseln… Spielen könnt ihr, wenn ihr es geschafft habt!« ruft er den Jungen zu. »Nach der ersten Million!« Die beiden Knaben glotzen reglos zurück – Bildungsverweigerer?
Tatsächlich sei mindestens einer der Jungen kurz davor, in den Hauptkita-Bereich umgekindergärtnert zu werden. »Umgeschult passt ja net, gell?« sagt der junge Mann und betont, dass man dem Seppl, der Eltern zuliebe, eine letzte faire Chance zum Aufholen gewährt.
Auf das Gymnasial-Krippen-Programm, das man sich ohne Hilfe selbst erarbeitet habe, sei man natürlich sehr, sehr stolz, berichtet Dr. Schnarzlhuber mit geschwellter Brust beim Gang durch die Abteilung für die jüngeren Kinder und erklärt: »Gymnasial-Krippenkinder machen grundsätzlich ganz genau die gleichen Entwicklungsphasen durch wie ihre Altersgefährten. Aber erstens schneller und zweitens auf deutlich höherem, quasi komplexerem Niveau. Dem muss man durch entsprechende Anreize entgegenkommen: Unsere Spezial-Bildungs-Duplosteine haben natürlich wesentlich mehr Noppen pro Stein, und es gibt sie auch in Okta- oder Dodekaederform, nicht nur als Quader. Dös is eher wos für die breite Masse.«
Traudl nickt, verspricht hastig, beide Eder-Wörter umgehend nachzuschlagen, um offenbar gewordene eigene Bildungslücken zu füllen, und beantwortet meine Frage: »Ja, auch beim Morgenkreis in Knödelreuth sind Fingerspiele mit Gesang üblich – aber in Latein oder Altgriechisch. Da, gerade geht es los…«
»Con digitulis, con digitulis, con mano plano, plano…« Zur Melodie klopfen die Kinder erst mit den Fingerchen, dann mit flacher, flacher Hand auf den Tisch. »Ös Lerne, dös hört nie auf«, trompetet Schnarzlhuber Stunden später volkstümlich, als ich die Kinder beim Anziehtraining in der Garderobe betrachte. Mir fallen die knopfreichen Jacken auf: Aha, erhöhter Niveauanspruch! Aber die Kinder wirken seltsam lustlos.
»Dös is wegn dera Hausaufgabn«, vermutet Schnarzlhuber grinsend. Und Traudl ergänzt schulterzuckend: »Unser enormes Pensum wäre nicht zu schaffen, wenn die Kinder nicht täglich gut vorbereitet zu uns kämen.« Wie es sich für eine zukunftsorientierte Einrichtung gehört, arbeiten die K2er dabei differenziert: Während Jonas und Melissa-Paris zu Hause die Aufgabe haben, das Fühlangebot vom Vormittag theoretisch nachzubereiten, erhält Samuel, der trotz intensiver Einzelförderung manchmal noch einnässt, die Aufgabe, eine Powerpoint-Präsentation herzustellen – zu dem optimistischen Thema »Wie ich erfolgreich trocken werde«.
Siebzehn Uhr dreißig. Korbinian hat in der Garderobe Streit mit seiner Mutter. »Ich versteh ja, dass du lieber Eis essen willst«, seufzt sie. »Aber bei deinem aktuellen Leistungsstand in Klötzestapeln kannst du das vergessen. Und das Experiment mit dem Gummibärchen im Wasserglas sitzt auch noch nicht. Übermorgen ist doch Kleine-Forscher-Prüfung. Hast du das vergessen?« Der Zweijährige nickt glasig.
»Mit dem Entwickeln des Leistungsbegriffs kann man nicht früh genug anfangen«, sagt die Mutter, während sie ihren widerstrebenden Sprössling mit spürbarem Druck in den Raum zurückschiebt, in dem auf niedrigen Einertischchen jeweils ein Bauklotz-Set bereitliegt.
»Komm schon«; motiviert Traudl Korbinian, »wir versuchen noch mal den Neunerturm. Andere schaffen es doch auch…«
Eine zufällig hinzutretende ältere Dame, die beruflich »irgendwas mit Bildung macht«, stellt sich als Annette Schavan vor und ergreift enthusiastisch das Wort: »Als ich zum ersten Mal einen Kindergarten betrat, war ich sprachlos! Alle bisherigen Vorstellungen von Bildungsarbeit, die ich aus meiner langjährigen Universitätspraxis kannte, wurden konterkariert. Gut, dass mir die Sache mit dem Haus der kleinen Forscher einfiel. Dadurch wurde diese Form der frühkindlichen Bildung wenigstens ansatzweise anschlussfähig. Mein Ziel ist es, aus der Institution Kindergarten eine Kinder-Uni zu machen, die den Namen zu Recht trägt. Und vielleicht wird hier, in diesem Haus, der entscheidende Anstoß gegeben.«
Da macht es »Rumms!«. Ein erneuter Bau-Versuch Korbinians ist gescheitet. Traudl seufzt resigniert und murmelt lakonisch etwas wie »Jo, wir schaffen das…«
Es wird Abend, und die Sonne versinkt hinter dem Großen Zusel, dem Hausberg Knödelreuths. Schnarzlhuber wird sich gleich in den Fond seines Neuner-BMW fallen lassen. Wenn ich verspreche, seinen Ausführungen noch ein Weilchen zu lauschen, nimmt er mich vielleicht zum nächsten Bahnhof mit, denn den einzigen Bus habe ich längst verpasst.
Überall in den Gassen des beschaulichen Dorfs zieht Vorabendruhe ein, nur hin und wieder unterbrochen vom charakteristischen Ratschen herabsausender Rollläden an den Thermofenstern. Nur am Ortsrand, im hinteren Raum des Kindergartens, brennt noch ein Licht. Und es scheint mir, als hörte ich das polternde Geräusch fallender Holzklötze…
Micha Fink