Dr. Salman Ansari plädiert gegen die Akademisierung der Kindheit und gegen »Wissen aus zweiter Hand«. Der Autor beschreibt, wie Kinder die Welt entdecken und wie Erzieherinnen ihnen dabei helfen können.
Die Akademisierung der Kindheit
Seit einigen Jahren arbeite ich mit Kindergartenkindern zusammen, und je länger ich das mache, desto fragwürdiger und erläuterungsbedürftiger erscheinen mir zwei Begriffe, die seit PISA zunehmend mit den Erziehungsprozessen in Kindergärten assoziiert werden. Sie lauten: Frühförderung und naturwissenschaftlich-technische Bildung in Kitas.
In einem Vortrag konstatiert der Entwicklungspsychologe Wassilios Fthenakis, einer der bekanntesten Befürworter der Frühförderung, dass die Kinder in den Kindergärten chronisch unterfordert und falsch angesprochen seien. Da ich nicht wusste, was man unter chronischer Unterforderung verstehen könne, und Herr Fthenakis auch nicht begründete, an welchen Merkmalen man erkennt, dass Kindergartenkinder falsch angesprochen seien, suchte ich in den letzten Jahren nach einer empirischen Erhebung, die diese Feststellung erläutern und unterstützen könnte. Allerdings vergeblich.
Betrachtet man die Inhalte der Programme, die Publikationen vieler Institutionen und die Modellversuche zur Frühförderung, dann muss man feststellen, dass letztlich alle auf die Akademisierung der Kindheit zielen, denn aus dem Wesen und der Struktur der diversen Aufgabenstellungen geht weder die pädagogische Zielsetzung noch die Möglichkeit zu eigenen Erfahrungen und Entdeckungen eindeutig hervor. Wenn also Lerngegenstände, die bisher für die Grundschule und Mittelstufe als geeignet erachtet wurden, ebenso gut für die Drei- bis Sechsjährigen sind, dann fördern sie meiner Ansicht nach nicht die Entwicklung von altersgemäßer »Bewusstheit der Denkvorgänge« und somit auch nicht die Neigung des Kindes zu aktivem Erforschen und Erkunden.
Sind alle Kinder Personen aus eigenem Recht?
Die Kindheit ist – wie wir wissen – eine bedeutende Zeitspanne im Leben. Im glücklichsten Fall kennzeichnet sie eine kreative Wechselwirkung zwischen den individuellen Bedürfnissen der Kinder und der Vermittlung von Erfahrungen, Sprach- und Sozialkompetenzen, die letztlich den Grundstock für die kognitive und seelische Bewältigung von zukünftigen schulischen Herausforderungen bilden.
Nun sind Kindertagesstätten keine hermetischen Welten. Sie widerspiegeln nicht nur die veränderten Familienstrukturen – viele Kinder wachsen ohne Geschwister und nur mit Mutter oder Vater auf –, sondern auch die sozio-politischen Widersprüche und die Defizite der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Wir leben in einem Zeitalter der sich dynamisch verändernden sozialen und kulturellen Strukturen. Werte wie eine gemeinsame soziale und kulturelle Identität beziehungsweise traditionelle Wertesysteme verlieren im Alltag ihre Bedeutsamkeit. Vorurteile und Mechanismen der Ausgrenzung von Menschen mit anderem sozialen oder kulturellen Hintergrund nehmen zu. Über die ökonomische Lage der Kinder und Jugendlichen in Deutschland teilt die jüngste UNICEF-Studie mit, sie sei relativ schlecht: In Europa nimmt Deutschland den 14. Platz ein. Was das subjektive Wohlbefinden der Kinder betrifft, so befindet sich Deutschland auf dem neunten Platz. Unzweifelhaft zeigt die Studie, dass in Deutschland eine Kluft zwischen einem privilegierten und einem nicht privilegierten Aufwachsen existiert.
Es gibt viele Kinder, die beim Eintritt in den Kindergarten mangelhafte soziale Kompetenzen aufweisen, sich auffällig, unruhig und unausgeglichen verhalten, ein ausgeprägtes Bedürfnis nach Zuwendung und körperlicher Nähe haben und eine defizitäre Sprachkompetenz besitzen. Sie verhalten sich insgesamt so, dass einem der Gedanke kommen könnte, ihnen fiele das Leben schwer, weil sie familiären Halt, Verlässlichkeit und Geborgenheit vermittelnde Orientierungen vermissten.
Das Verhalten auffällig gewordener Kinder spiegelt jedoch die gesellschaftlichen Defizite. Identitätsfindung durch verlässliche Gefühlsbindung an Kinder und Heranwachsende ist für viele Menschen in unserer modernen Welt vermutlich nicht leistbar.
Kindergärten als Refugium – nur eine Vision?
Vor diesem Hintergrund nehme ich die Kindergärten als Orte der Friedfertigkeit und eines unglaublich ermutigenden Optimismus wahr. Dieser Optimismus offenbart sich in der Überzeugung, dass alle Herausforderungen zu bewältigen sind, solange man jedes Kind darin unterstützen kann, seine konstruktiven Kräfte zu entfalten, um sich in die vielschichtige Gemeinschaft zu integrieren. Kindergärten scheinen mir Orte zu sein, wo engagierte Erzieherinnen versuchen, ungelöste soziale und politische Probleme in den Griff zu bekommen. Es ist ein Wunder, dass die Erzieherinnen tagtäglich darum bemüht sind, den Kindern ein ungestörtes Erleben der Kindheit zu ermöglichen – trotz der evidenten Schwierigkeiten, der eklatant fehlenden professionellen Unterstützung und der unwürdigen Vergütung ihrer Arbeit.
Mithin sind die Kindergärten vermutlich die einzigen Orte, die sehr vielen Kindern die Begegnung mit anderen Kindern, das gemeinsame Spielen, die Bewältigung von Konflikten, das Entdecken und Entfalten von eigenen Gefühlen, das Hinnehmen von Frustrationen, das Zurückstellen eigener Wünsche, die Wahrnehmung der Eigenart des Anderen ermöglichen.
In diesem Mikrokosmos hat jedes Kind potenziell die Chance zu erfahren, was die anderen Kinder mit ihrem Tun und Sprechen meinen und wie es sich selbst in neuen Situationen verhalten und begreifen kann. Kindergärten sind somit auch Orte, wo jedes Kind im Zusammensein und Zusammenspiel mit anderen Kindern die Fähigkeit entwickeln kann, über seine Sprache und sein Denken zu reflektieren.
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