Eine Kindheit ohne Kasperletheater kann ich mir nicht denken. Meine Eltern hatten wohl selbst viel Spaß beim Herstellen der Handpuppen, beim Kulissenmalen und bei den Inszenierungen, sonst wären sie mir nicht so eindrücklich im Gedächtnis geblieben.
Perlonstrumpfteile wurden fest mit Watte gestopft und so in Form gedrückt, dass unterschiedliche Köpfe und Nasen entstanden. Meine Mutter stattete die Figuren kunstvoll aus: Gretel trug ein buntes Blümchenkleid mit passendem Kopftuch, Kasperle eine rote lange Zipfelmütze mit Glöckchen an der Spitze und die Hexe ein hässliches Flickenkleid. Auf ihrer krummen Nase prangte eine dicke Warze.
Die Prinzessin liebte ich am meisten. Sie war rosig und wunderschön. Eine goldene Krone schmückte ihr Haupt, und langes blondes Haar umkränzte ihr zartes Gesicht. Ich glaube, sie hatte ein hellblaues Kleid mit glänzenden Perlen an. Den König umhüllte Samtrot und Brokat.
Das Krokodil war aus festem grünem Stoff genäht. Es konnte sein Maul aufklappen und alles fressen. Den Räuber fanden wir auch gut. Er heckte immer Verbotenes aus, und wir fürchteten, dass der Polizist ihn ins Gefängnis stecken würde. Die klassischen Kaspertheater-Figuren waren uns Kindern wohlbekannt.
Mein Vater hatte sogar das Theater selbst gebaut. Wenn endlich der Vorhang beiseite geschoben wurde, erschien eine bemalte Rückwand, führte uns an den Ort des Geschehens, und endlich ließ der Kasper sich sehen: »Trari, trara! Kinder, seid ihr alle da?«
Waren wir Kinder an der Reihe, hatten die Handpuppen meist mehr mit den Spielern zu tun als mit dem Publikum. Oft gab es Streit, wer vorspielen durfte. Der Teufel ruderte hektisch mit den Armen, Kasperle sprach selten die Zuschauer an, verschwand abrupt und tauchte ebenso schnell wieder auf.
Ja, es ging hoch her! Regieanweisungen wurden nie eingehalten. Meist prügelte Kasperle sich mit dem Räuber, schlug ihn mit der Klatsche aber immer in die Flucht.
Oft improvisierten wir Bühnenstücke. Eine Decke oder ein alter Vorhang wurde zwischen den Beinen eines ungedrehten Tischs mit Strippe und Wäscheklammern festgezurrt. Erreichte das Drama seinen Höhepunkt, rutschte der Vorhang plötzlich herunter. Die Illusion war perdu.
Manchmal erfanden wir passende Geräuschkulissen. Wenn Gretel kochte, wurde in einem echten Kochtopf gerührt, und wenn der Großvater Zeitung las, blätterten wir eine echte Illustrierte auf. Der Donner durfte auch nie fehlen: Ein Kuchenblech schepperte mächtig, was für viel Spaß sorgte.
Wir suchten Glöckchen, Blechdosen, Küchenutensilien aller Art, experimentierten mit Tönen und Klängen, die später den Szenen zugeordnet wurden. Manchmal verzögerte sich das Spiel, weil die Percussion hinter der Bühne förmlich ausuferte.
Am tollsten waren die Wassergeräusche. In der Wasserschüssel plätscherte und gluckste es. Strohhalme kamen zum Einsatz, Luftballons quietschten und zirpten, Steine rasselten und rollten. Preschte der Königssohn zu Pferde heran, riefen wir: »Galopper, gallopper, galopper!«
Weil wir voller Eifer mit dem Herstellen von Geräuschen beschäftigt waren, verschwanden die Hauptdarsteller schon mal von der Bühne und nahmen ihre Handlungen erst nach eindringlichen Rufen der Zuschauer wieder auf.
Manchmal benutzten die Figuren auch fremde Sprachen, verstanden einander nicht, kamen kaum zu Worte und hörten einander nicht zu. Oft endete eine Vorführung, weil ein kleineres Geschwisterkind zu nahe an das Geschehen rückte, den Kasper an der Mütze zog oder gar hinter die Bühne rutschte, was Geschrei und den Unmut der Spielenden verursachte.
Bei diesem Theater lernten wir Kinder viel. Wir dachten uns fantastische Geschichten aus, setzten unsere Ideen lautstark durch, spielten unsere Gefühle aus, empfanden Erlebtes nach und versetzten uns in die unterschiedlichsten Rollen. Wir übten uns in Geduld und im Improvisieren, wir lachten miteinander oder zankten uns, weil ein Kind spannend fand, was das andere langweilte.
Figurenspiel ist darstellendes Spiel – eine Kunstform, die wieder neu entdeckt wird. Zwar ist das Kasperletheater aus der Mode gekommen, meine Enkel interessiert es nicht mehr. Aber sie erfinden neue Figuren, konstruieren ihre eigenen Geschichten mit Geistern oder Untieren. Wenn genug anregendes Material vorhanden ist, staune ich, was ich beim Zuhören und Zuschauen erlebe, wie Handlungen sich entwickeln, sich verselbstständigen und wie beneidenswert impulsiv und assoziationsfreudig es zugeht.
Manchmal braucht man nur Papier und eine Schere, um eine Bühne und Akteure zum Leben zu erwecken. Und sei die Bühne noch so klein – sie zieht Publikum an. Manchmal möchte man nur für sich allein spielen und braucht keine Zuschauer.
Wie dem auch sei: Vorhang auf für die Fantasie!
Dagmar Arzenbacher
Schuppen 9
Fortbildungsstätte für Erzieherinnen
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Tel.: 030/772 15 30
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Internet: www.schuppen-9.com
www.dfp.fidena.de
Das Deutsche Forum für Figurentheater und Puppenspielkunst e.V. (dfp) setzt sich für die Förderung des Figurentheaters und der Puppenspielkunst in ganz Deutschland ein. Dabei geht es vor allem praxisorientiert um das Figurentheater und die Puppenspielkunst mit ihren angrenzenden Bereichen wie Performance, Installation, Objekt- und Materialtheater, Visuelles Theater oder Puppentrickfilm.
www.figurentheater-kolleg.de
Das Figurentheater-Kolleg ist eine seit 1977 staatlich anerkannte Weiterbildungseinrichtung und bietet Berufliche Bildung im Rahmen von Wochen- und Wochenendkursen, mehrwöchigen Projekten, Einzelkursen und Turnuskursen an.
www.vdp-ev.de
Der Verband Deutscher Puppentheater e.V. ist die berufständische Vertretung der professionellen Puppen- und Figurentheater in der Bundesrepublik Deutschland. Er unterhält Archive und Sammlungen und ist Herausgeber der Theaterzeitschrift »Puppen, Menschen und Objekte«. Viele Mitglieder sind beratend oder leitend bei Festivals tätig und führen regionale Projekte, Seminare und Workshops durch.
www.unima.de
Der Weltverband der Puppenspieler (UNIMA) koordiniert den internationalen Tag des Puppenspiels, der am 21. März 2010 mit vielen Aufführungen und Aktionen der Puppenspielbühnen stattfindet. Das bundesweite Programm findet sich auf der Homepage.
Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 03/10 lesen.