Die Kinderkunstwerkstatt, die Kunstpädagogik und der freie Markt
Wer die beiden zur Straße liegenden Räume der Kinderkunstwerkstatt in der Berliner Fichtestraße 28 betritt, sieht sich umgeben von Zeugnissen kindlicher Kreativität: Da ist der für einen Auftritt auf dem Berliner »Karneval der Kulturen« gebaute Riesenvogel, der mit strenger Miene und langem Hakenschnabel auf die Gäste herabblickt.
Oder die puppenstubenartigen Miniaturmöbel, die Teil einer ständig wachsenden Zwergwohnlandschaft sind und den bunten Materialien in den Regalen den Platz streitig machen. Ein bis unter die Decke reichendes Sammelsurium an Kleinoden und teils exotischen, teils alltäglichen Fundstücken wartet darauf, entdeckt und neuen Zwecken zugeführt zu werden.
Es fällt schwer, dem Ruf des Materials nicht zu folgen und – statt Klebstoff und Farben, Stift und Papier in die Hand zu nehmen – sich der wechselhaften Geschichte dieses Ortes im Gespräch zu widmen. Doch lauscht man den Erzählungen der enthusiastisch-herzlichen Kim Archipova, Künstlerin, Kunstpädagogin und tragende Säule der Werkstatt, liegt etwas von der geschäftigen Kreativität der Kinder in der Luft, die diese Räume tagsüber füllt. Wer an sommerlichen Nachmittagen kommt, wird schon auf den Stufen der Vortreppe und rund um das kleine, aber üppige Blumenbeet junge Künstlerinnen und Künstler treffen, die versunken oder lautstark erzählend zeichnen, feilen, biegen und bauen.
Ein Anliegen der Werkstatt ist es, Kindern die Möglichkeit zu geben, sich außerhalb der Schule künstlerisch zu betätigen. Getragen wird die Werkstatt vom Verein »Kommunikation durch Kunst e.V«. Der Name ist Programm: Kunstpädagogen und freie Künstler aus unterschiedlichen Feldern arbeiten hier mit Kindern aus dem Kiez und der weiteren Umgebung. Dabei verschränken sich pädagogische, ästhetische und soziale Anliegen in besonders prägnanter Weise. Denn zum einen werden Räume eröffnet, in denen Kinder eigene Ideen, Empfindungen und Fantasien ausdrücken können, so dass ein Gegengewicht zu der nach wie vor stark auf abprüfbare Wissensvermittlung orientierten schulischen Praxis entsteht. Zum anderen wird die Arbeit eng auf Probleme und Perspektiven der Nachbarschaftsentwicklung bezogen. So werden beispielsweise immer wieder Wünsche und Vorschläge der Kinder zur Veränderung des Wohnumfelds künstlerisch ausgestaltet und in die lokale Öffentlichkeit getragen.
Ein zentrales Thema dabei: Die zunehmenden sozialen Spaltungstendenzen, die sich gerade in einem Brennpunkt wie Berlin-Kreuzberg deutlich abzeichnen und denen mit der Sprache der Kunst begegnet werden soll. Ein solches Unterfangen gleicht natürlich der Aufgabe des Sisyphos, weil – wie fast überall in der sozialen Arbeit – die finanziellen und institutionellen Rahmenbedingungen äußerst prekär sind.
In der Praxis der Kinderkunstwerkstatt spiegeln sich charakteristische Entwicklungen im Bildungsbereich und in der Gesellschaft insgesamt. Es lohnt sich daher, an diesem Beispiel dem pädagogischen und sozialen Potenzial der Kunstpädagogik und der ästhetischen Bildung unter heutigen Bedingungen nachzugehen und ein zeitgemäßes Verständnis ihrer Ziele zu formulieren.
Der Einblick in einige der zahlreichen Projekte der Werkstatt dient insofern nicht allein der praktischen Anregung – denn jede gute Idee möchte mindestens zwei Mal verwirklicht werden –, sondern ist Anlass, über grundsätzlichere Fragen zur Bedeutung der Kunst für kindliche Entwicklungsprozesse nachzudenken. Inwiefern kann es sinnvoll sein, über die klassischen Vorstellungen der reformpädagogisch orientierten Kunstpädagogik hinauszugehen?
Kunst im Bildungsdschungel
Zunächst: Wie steht es generell um den Status der Kunstpädagogik in der schulischen und außerschulischen Bildungsarbeit? Die Entwicklung der zurückliegenden Jahre ist nicht leicht auf einen Nenner zu bringen.
Auf der einen Seite steht die oft euphorisch gefeierte (Wieder-)Entdeckung speziell der darstellenden und musischen Künste als ideales Feld der Persönlichkeitsentfaltung und Entwicklung ganzheitlicher Kompetenzen. Unzählige Kitas und Schulen werben mit kunstpädagogischen Schwerpunkten um »Kundschaft«, Filme wie »Rhythm is it« feiern phänomenale Erfolge, und die zentrale Rolle der Theaterprojekte an der Wiesbadener Helene-Lange-Schule, die unter Enja Riegel zu einem Symbol des Bildungsaufbruchs wurde, ist in aller Munde. Die Bildende Kunst gerät dabei immer ein wenig in Gefahr, im Schatten der musischen und darstellenden Künste zu stehen. Dennoch würde wohl kaum jemand wagen, ihre Bedeutung für kindliche Entwicklungsprozesse offen in Frage zu stellen.
Auf der anderen Seite findet in Politik und Medien ebenso wie im Bewusstsein vieler Eltern und Pädagogen eine Rückbesinnung auf »Leistungs- und Ergebnisorientierung« statt. Damit geht oft eine Konzentration auf die so genannten Kernfächer wie Mathematik und Naturwissenschaften, Deutsch und Fremdsprachen einher. Die Kehrseite: Vermeintlich »weiche« Fächer wie Sozialkunde, Geografie und eben Kunst werden an den Rand gedrängt. Ihr Anteil an den Wochenstunden wird in vielen Ländern verringert, während die Lehrpläne zugleich verdichtet werden.
Zwar gestaltet sich die Entwicklung im deutschen Bildungsdschungel uneinheitlich, dennoch gilt grundsätzlich: Die allgemeinen Vergleichstests, PISA-Studien und überhaupt die Mehrzahl der Bildungsuntersuchungen in Deutschland zielen auf die Abfrage klar definierter Kenntnisse und Kompetenzen. Naturgemäß entzieht sich die Kunst solchen engen Kategorisierungen. Ihr Beitrag im Bildungsprozess lässt sich weniger leicht fixieren und quantitativ bemessen. Nur: Das macht ihn nicht geringer.
Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 01-02/10 lesen.